Liebes Tagebuch...

Tragikomödie | Italien/Frankreich 1993 | 101 Minuten

Regie: Nanni Moretti

In Form eines filmischen Tagebuchs entwickelt Nanni Moretti in drei Kapiteln sehr persönliche Gedanken über die Wechselbeziehungen von Gesellschaft und Individuum, über Kino und Fernsehen, über die kleinen und größeren "Wunder" des Lebens und Überlebens. Seine Vespa-Fahrt durch römische Vororte, seine Suche nach Ruhe auf den Liparischen Inseln, schließlich seine tragikomische Auseinandersetzung mit seiner Erkrankung und den ärztlichen Behandlungsversuchen gestalten sich als zeitgenössische, ebenso spielerische wie verspielte Odyssee, die geprägt ist von liebenswürdiger (Be-)Sinnlichkeit und intelligentem Witz. (Auch O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CARO DIARIO
Produktionsland
Italien/Frankreich
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Sacher/RAI Uno/Banfilm/La Sept Cinema/Canal plus
Regie
Nanni Moretti
Buch
Nanni Moretti
Kamera
Giuseppe Lanci
Musik
Nicola Piovani
Schnitt
Mirco Garrone
Darsteller
Nanni Moretti (Nanni) · Renato Carpentieri (Gerardo) · Antonio Neiwiller (Bürgermeister von Stromboli) · Claudia della Seta (eine Mutter) · Lorenzo Alessandri (ein Vater)
Länge
101 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Tragikomödie
Externe Links
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Diskussion
Bereits während des Vorspanns eine erste Irritation: die Namen der am Film Beteiligten ziehen vorüber, dabei bleibt es aber still -kein Geräusch, keine Musik, nichts außer einigen Fakten. Unmittelbar danach eine Hand, die etwas in eine Art Notizbuch schreibt: einen Satz, offensichtlich aus einem größeren Zusammenhang gerissen, doch der "schleudert" den Zuschauer mitten in die Geschichte, die dann aber gar keine sein wird: "Eines der Dinge, die mir Spaß machen, ist mit der Vespa zu fahren", sagt/schreibt Nanni Moretti, und schon folgt man ihm bei seinen Fahrten durch unbekannte (Vor-)Orte Roms -kostengünstige Travellings (nun begleitet von unbeschwerter Schlagermusik in "sattem" Klang) durch eine stimmungsvolle Realkulisse, vorbei an Häusern, Plätzen, Straßen. Das ist kurzweilig und amüsant, muß jedoch erst einmal als erzählerische "Methode" verstanden und akzeptiert werden. Denn was macht Moretti da eigentlich? Er bietet seine eigene Alltagswelt als dokumentarische Grundlage für einen assoziativ geflochtenen Diskurs, der neugierig macht auf die möglichen (fiktiven) Geschichten, die sich darin verbergen: in den Häusern, in den Wohnungen und "in" deren Bewohnern. Das Sinnieren darüber ist wiederum Morettis erdachte Geschichte: Er schreibt sie in ein Tagebuch, und zwar, wie in der intimen Form solcher Niederschrift üblich, sehr persönlich, reflektorisch und "dokumentarisch" zugleich. Kurioserweise geschieht dies nicht (nur) für den Schreibenden selbst, sondern für eine Öffentlichkeit, nämlich das Kinopublikum, das Moretti zuhört und zusieht, also direkter Ansprechpartner ist - und bald schon eine Art Vertrauensperson, ja sogar eine Art Freund, dem sich Moretti offenbart.

Morettis filmisches Tagebuch entpuppt sich als ebenso intelligente wie skurrile, anregende wie höchst amüsante kulturkritische Reflexion über die Wechselbeziehungen von moderner Gesellschaft und Individuum, vor allem über die Vorstellungen, die sich beide voneinander machen. Im oberflächlichen Sinne hat der Film, der sich quasi zettelkastenartig zusammensetzt, rein gar nichts mit "Kino" zu tun, erweist sich zunehmend als das genaue Gegenteil: nämlich als eine raffinierte Eulenspiegelsche Camouflage, die wesentliche Tugenden des Kinos wiederentdeckt. Moretti nimmt sich heraus, rücksichtslos individualistisch zu sein, und sein persönliches Interesse am "Lauf der Dinge", an den Menschen und an ihren Bildern zu bekunden. Indem er sich selbst stets in Beziehung setzt zu diesen Bildern, gelingt ihm Erstaunliches: er erzählt in seinen eigenen Worten, Tönen und Bildern und erschafft zugleich eine reflektorische Ebene, die den Zuschauer in ein "emanzipatorisches" Verhältnis zu dieser Erzählweise setzt. Dies ist nie akademisch, vielmehr spielerisch und verspielt, witzig, anarchistisch-frech und stets von einer liebenswürdigen Sinnlichkeit. Moretti erweist sich in keinem Moment als verbissener Moralapostel, sondern als Menschenfreund mit lustvoller Freude am satirischen Blickwinkel.

Auf den ersten Blick ist der Film willkürlich in drei voneinander unabhängige Kapitel gegliedert, schon bald aber gibt er eine feine innere Struktur zu erkennen. So entwickelt sich aus der ersten sinnesfrohen Reise "Auf der Vespa" eine Art programmatischer Dialektik. Die These: Das Kino macht alles möglich; das, was es in einem Betrachter auslöst, ist genauso "wirklich" wie die Kinogeschichte selbst. So wundert sich Moretti nicht, daß Jennifer Beals, für deren Tanzfilm "Flashdance" er vorher so geschwärmt hat, plötzlich durch seinen Film spaziert - als vorgeblich zufällige Passantin, in Begleitung von Alexandre Rockwell, dem sie erklärt, daß Moretti nicht gerade verrückt, aber doch etwas "Spezielles" sei: "whimsical" halt, schrullig, launenhaft, ausgefallen und komisch. Es folgt die Antithese: Das Kino mißbraucht die Tatsache, daß in ihm alles möglich ist, und damit auch seine Zuschauer; Helfershelfer ist dabei der Filmkritiker. Moretti sieht in einem römischen Kino den amerikanischen Brutalfilm "Henry. Portrait of a Serial Killer" (fd 30 092); er schwankt aus dem Kino, erinnert sich an eine Zeitungsrezension, die in einem verbalen Ungetüm aus "Henry" ein Meisterwerk mit sozialer Relevanz machen wollte. Nachdem er diese Kritik ins Tagebuch übertragen hat, stellt er die Frage: Hat derjenige, der so etwas schreibt, am Abend vor dem Einschlafen keine Gewissensbisse? Ein zutiefst ernster Moment, den Moretti freilich, ganz Vollblutkomiker, unmittelbar in einen der komischsten des Films umkippen läßt: er sitzt am Bett eines weinenden Kritikers und liest ihm - als Strafe? - weitere Kritiken vor. Schließlich die Synthese: Das heutige Kino ist eher ein Dokument dessen, was man unwiederbringlich verloren hat. "Wann hat das alles angefangen?", fragt Moretti und "pilgert" zu der Stelle, an der vor Jahren Pier Paolo Pasolini ermordet wurde - eine lange (Vespa-)Fahrt, begleitet von der Musik aus Keith Jarretts"The Köln Concert", verdichtet zu einem berührenden Moment tiefster (Selbst-)Besinnung.

Von nun an stößt Moretti immer tiefer ins "Eigentliche" vor. Jarretts Musik lappt über in die ersten Bilder des zweiten Kapitels: "Die Inseln". Es beginnt eine Odyssee über die liparischen Inseln, bei der Moretti stets auf der Suche nach Ruhe, Muße und Ursprünglichkeit ist. Begleitet wird er von seinem Freund Gerardo, einem Intellektuellen und vermeintlich Gleichgesinnten, der seit elf Jahren auf Lipari wohnt, seitdem nie Fernsehen gesehen hat und sich ganz dem Studium von Joyces"Ulysses" widmete. Die Suche der beiden scheitert immer wieder auf skurrile Weise an den Bewohnern der Inseln: hier kuriose Paare, die sich ganz der Erziehung ihrer Einzelkinder hingeben, dort verdrehte Zivilisationsflüchtlinge oder unterhaltungsgierige Partygänger, vor denen die beiden sofort wieder flüchten. Je ferner man der Zivilisation ist, desto deutlicher drängt sie sich ihnen auf, nicht zuletzt weil Gerardo der Fernsehsucht verfällt. Ungezügelt ist seine (Neu-) Gier, selbst angesichts der archaischen Monumentalität des Strombolis zu erfahren, wie eine amerikanische Fernseh-Seifenoper weitergeht. Was bleibt, sind dennoch einige wahre Momente des Glücks, die, wenn Moretti sie findet, deckungsgleich sind mit "großen" Bildern des Kinos: bei einem Spaziergang der Eindruck eines hinter einem Hügel scheinbar vorbeischwebenden Schiffes, auf einem einsamen Fußballfeld der Flug des in die Höhe gekickten Balles, der in einer extremen Totale aus höchster Aufsicht verschwindet.

Kapitel 3 schließlich, "Ärzte", zieht eine rigorose Quintessenz. Die Insel-Odyssee mündet in eine ganz andere Art von Odyssee, nämlich die protokollarische Bestandsaufnahme von Morettis eigener Befindlichkeit: er, der Spötter, ist durch eine lebensbedrohende Tumor-Erkrankung selbst zu einem Opfer geworden, kann nicht länger auf ironische Distanz gehen, muß sich mit sich selbst auseinandersetzen. Zwar schlägt die Stimmung zwangsläufig in ernstere Töne um. was aber nach kurzen Momenten der Beklemmung kein Anlaß des Jammerns ist, sondern zur tragikomischen Bestandsaufnahme fachärztlicher Unzulänglichkeiten führt. Bald sitzt Moretti vor einem wahren Wust von Fehl-Diagnosen, Rezepten und Medikamenten, und daß er aus diesem Teufelskreis überhaupt entrinnt, ist vielleicht das größte Wunder des Films. Am Ende schließlich steht eine ebenso schlichte wie aufrichtige Erkenntnis: die Reinheit eines Glases Wasser, das Moretti jeden Tag zu trinken gedenkt. Und wenn man zurückschaut auf die Etappen des filmischen Tagebuches, dann erinnert man sich gerne an ähnlich "wahre" Momente, die wie Kieselsteine scheinbar zufällig im klaren Wasser lagen: Morettis Mambo-Tanz "mit" Silvana Mangano, die sich in einem alten Film hinreißend bewegt, oder auch Morettis Reaktion auf einen "modernen" italienischen Kinofilm, in dem saturierte Bürger larmoyante Nabelschau ihrer Befindlichkeit betreiben; im Gegensatz zu ihnen habe er damals das Richtige geschrien, kontert Moretti - "und heute bin ich ein prachtvoller Vierzigjähriger!".
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