Dokumentarfilm | Schweiz 2018 | 89 Minuten

Regie: Fanny Bräuning

Die Filmemacherin Fanny Bräuning porträtiert ihre Mutter, die seit 40 Jahren an Multipler Sklerose leidet, und ihren Vater, der sie seitdem aufopferungsvoll pflegt. Ein Urlaub zeigt die Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten, auf die ein Leben mit Behinderung unterwegs trifft, aber auch die Verbundenheit des Paares. Der Dokumentarfilm gelangt zu einer ungewöhnlichen Nähe zu den Porträtierten und beeindruckt durch die Intensität bei der Beobachtung einer außergewöhnlichen Beziehung. Argumentative Schwächen zeigt der sehr differenzierte und seriöse Film nur dort, wo er die (ausschnittsweise) dargestellte Situation für allgemeingültige Aussagen in Anspruch nimmt. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
IMMER UND EWIG
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Hugofilm Prod.
Regie
Fanny Bräuning
Buch
Fanny Bräuning · Christian Lisker
Kamera
Pierre Mennel
Musik
Olivia Pedroli
Schnitt
Catrin Vogt
Länge
89 Minuten
Kinostart
24.10.2019
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Die Schweizer Filmemacherin Fanny Bräuning porträtiert ihre Mutter, die seit 40 Jahren an Multipler Sklerose leidet, und ihren Vater, der sie seitdem aufopferungsvoll pflegt, bei einem gemeinsamen Urlaub.

Diskussion

Am Anfang steht ein Bild, gemalt wohl um 1977 von der Graphikerin Annette Bräuning, der Mutter der Filmemacherin Fanny Bräuning, die wiederum erzählt, dass sie als Kind häufig fasziniert vor diesem Bild gesessen habe, um diese Studie des Sich-allmählich-Abhandenkommens zu studieren. Sechs Zeilen mit je acht Bildern erzählen diese chronologische Phantasie vom unvermeidlichen Abhandenkommen des eigenen Körpers: ein Szenario des Schreckens. Auf jedem Bild fehlt der Frau ein weiteres Körperteil, während im Hintergrund der Himmel stets blau ist, der Apfelbaum Früchte trägt und ein bunter Regenbogen lockt.

Nach eigener Aussage brauchte Fanny etwas Zeit, um zu verstehen, dass die Frau auf dem Bild ihre Mutter ist, die ihre Zukunft antizipierte, nachdem bei ihr „Multiple Sklerose“ (MS) mit der Präzisierung „chronisch progredient“ diagnostiziert wurde. Anders als beim eskalierend schubförmigen Verlauf der unheilbaren Nervenkrankheit ist der Krankheitsverlauf hier stetig voranschreitend. Als die Krankheit bei ihrer Mutter unmittelbar nach der Geburt ihrer jüngeren Schwester diagnostiziert wurde, war Fanny gerade einmal zwei Jahre alt. Das heißt, dass sie ihre Mutter bewusst nicht mehr als gesund, sondern „nur“ als immer kränker werdend erlebt hat. Diese Information ist für das Verständnis ihrer Porträt-Dokumentation „Immer und ewig“ von außerordentlicher Bedeutung, denn die Filmemacherin sieht darin einen zentralen Grund für die Stärke der Beziehung ihrer Eltern. Das Paar hatte nämlich eine gemeinsame Zeit ohne die Krankheitserfahrung, aus der es vielleicht die unerhörte Kraft schöpft, die der Film dokumentiert.

Zwanzig Jahre Leben mit MS

Etwas mehr als 20 Jahre nach der Erstdiagnose von MS – Annette war seit etwa zehn Jahren auf den Rollstuhl angewiesen –, kam es 1999 zu einem Zwischenfall: Nach einem septisch-toxischen Schock fiel die Mutter ins Koma und war fortan vom Hals abwärts gelähmt und musste auch das Sprechen erst wieder lernen. „Immer und ewig“ erzählt die Geschichte der Beziehung zwischen den Eltern der Filmemacherin, die auf ungewöhnlich eindrucksvolle Weise gelernt haben, mit der Krankheit zu leben. Annette Bräuning ist seit nunmehr 20 Jahren ein Pflegefall. Sie muss rund um die Uhr betreut werden, doch ihr Ehemann Niggi, ein erfolgreicher Fotograf und begnadeter Tüftler, hat alles darangesetzt, dass sie nach einem einjährigen Aufenthalt in der Reha-Klinik wieder nach Hause kam. Er hat das Haus barrierefrei umgebaut und in einen Bus investiert, damit das Paar weiter auf Reisen gehen kann. In einem Interview im Presseheft spricht die Tochter und Filmemacherin davon, dass ihr Vater gegen die Krankheit „rebelliert“ habe und mit aller Kraft versuche, „Lebenswillen für zwei“ zu generieren und zu erhalten.

Die Tochter begleitet ihre Eltern mit der Kamera auf eine ihrer Reisen in den Süden, zeigt all die kleinen und großen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten, auf die ein Leben mit Behinderung unterwegs treffen kann. Sie zeigt aber auch die Verbundenheit des Paares, das gewissermaßen mit Blicken und zärtlichen Gesten kommuniziert. Die Nähe der Personen zueinander erlaubt Fragen und Antworten, die sonst wohl eher nicht zu haben wären. Woraus schöpft das Paar die Kraft, der Krankheit über einen so langen Zeitraum Widerstand entgegenzustellen und sich nicht aus dem Alltag zurückzuziehen?

Bei allem Respekt, den das Paar in der Bewältigung seines Alltags abnötigt, werden aber auch Spannungen und Widersprüche in der Beziehung nicht verleugnet. Für die Mutter ist das Reisen eher eine Last, weil die Pflege zuhause ungleich besser organisiert ist. Für den Vater ist das Reisen gewissermaßen der letzte Luxus, den er sich noch gönnt. Alleine reisen mag er nämlich nicht. Die Mutter in ein Pflegeheim zu geben, war für ihn nie eine Option, sagt er. Bei der Sterbehilfeorganisation „Exit“ ist die Mutter trotzdem angemeldet, weil auch für sie, wie sie sagt, irgendwann „das Maß einmal voll“ ist. Beide Eltern sind jetzt Ende 60, insofern werden die Spielräume für eine weitere Pflege enger werden. Irgendwann wird die Tüftelei die Schwäche nicht mehr ausgleichen können.

Nicht unproblematische Verallgemeinerungen

Die Nähe und Intensität dieses Porträts einer außergewöhnlichen Beziehung ist beeindruckend, sollte aber nicht verallgemeinert werden. Insofern ist es nicht unproblematisch, wenn das Leben des Ehepaars Bräuning für allgemeinere Aussagen oder Werte im Umgang mit einer schweren Krankheit in Dienst genommen wird. Der Film ist sehr differenziert und stellt sich seriös der geschilderten Situation, thematisiert die Fragen von Macht und Ohnmacht in der Pflegesituation, aber er spart durchaus begründet auch mit Szenen, die vom Verlust der Würde, von Verzweiflung, Versagen, von Überforderung handeln.

Tatsächlich gibt es Momente, in denen hinter der Hingabe des pflegenden Vaters auch ein Egoismus und ein invertierter Fluchtimpuls sichtbar werden. Wenn er etwa ausführt, dass er sich den Luxus einer Midlife-Crisis anders als seine Freunde nicht habe leisten können. Auch ist an keiner Stelle vom ökonomischen Hintergrund des Paares oder vom Schweizer Gesundheitswesen die Rede, die dieses sicher sehr kostspielige Experiment abfedern.

Die entscheidende Frage ist: Soll, kann und darf man sich dieses Ehepaar zum Vorbild nehmen? Und welche gesellschaftliche Funktion haben Filme wie „Immer und ewig“, wenn man sie nicht als Dokumente glücklicher Einzelfälle behandelt? Setzt man Menschen, die diese unerhörte Kraftanstrengung nicht leisten können oder wollen, nicht unter Druck? Und zwar beide beteiligten Seiten! Spricht es gegen den Charakter eines Menschen, wenn er die jahrzehntelange Pflege eines Partners nicht als sinnstiftend erfährt? Und spricht es gegen den Charakter des Gepflegten, wenn er trotz der liebevollen Pflegeleistung trotzdem verzweifelt ist und sich gegen ein Weiterleben entscheidet? Was genau ist damit impliziert, wenn „Immer und ewig“ damit beworben wird, der Film erzähle von der „wahren Liebe“ in guten wie in schlechten Zeiten? Und in Zeiten des Pflegenotstands und der inkonsequenten und fruchtlosen Debatte über Sterbehilfe?

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