Drama | Frankreich 1923 | 416 (227,189) Minuten

Regie: Abel Gance

Ein Lokomotivführer rettet ein Mädchen und zieht es gemeinsam mit seinem Sohn auf. Als es älter wird, fühlt sich der Mann immer mehr zu seinem Mündel hingezogen, konkurriert mit seinem Sohn um deren Liebe und wandelt sich zum gewalttätigen Alkoholiker. In epischer Breite entfaltetes, wuchtiges Stummfilm-Epos vom französischen Kinopionier Abel Gance, das vor allem wegen seiner spektakulären Eisenbahn-Aufnahmen Filmgeschichte schrieb. Dezidiert sozial-realistische Elemente kontrastieren mit naiv-romantischen und auch ironisch-boulevardesken Szenen, die Bildsprache leitet ihre Symbolik unmittelbar aus den dargestellten Milieus ab. Für die Neuaufführung 2019 konnte die Originalmusik von Arthur Honegger und Paul Fosse rekonstruiert werden. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LA ROUE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1923
Produktionsfirma
Films Abel Gance
Regie
Abel Gance
Buch
Abel Gance
Kamera
Gaston Brun · Marc Bujard · Léonce-Henri Burel · Maurice Duverger
Musik
Arthur Honegger · Paul Fosse
Schnitt
Marguerite Beaugé · Abel Gance
Darsteller
Séverin Mars (Sisif) · Gabriel de Gravone (Elie) · Ivy Close (Norma) · Pierre Magnier (Jacques de Hersan) · Georges Térof (Machefer)
Länge
416 (227,189) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Stummfilm
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Kino als Gefühls-Maschine: Der französische Regisseur Abel Gance (1889-1981) entwickelte die Filmsprache als expressives Ausdrucksmittel entscheidend weiter. Zu seinem 130. Geburtstag wurde die rekonstruierte Film- und Musikfassung seines bahnbrechenden Stummfilm-Melodrams „La Roue – Das Rad“ aus dem Jahre 1923 aufgeführt.

Diskussion

Der Schauspieler und Kinopionier Abel Gance arbeitete von 1919, nach seinem Durchbruch mit dem pazifistischen Film J’accuse („Ich klage an“), bis 1922 am Melodram „La Roue“. Die Premierenfassung im Pariser Gaumont Palace, für die Arthur Honegger eine anspruchsvolle Kompilationsmusik zusammenstellte, dauerte rund achteinhalb Stunden und war anschließend in vier Teilen in den französischen Kinos zu sehen. Ein Jahr später erstellte Gance eine zweiteilige, vierstündige Version.

„Kino, das ist die Musik des Lichts“, schreibt Abel Gance 1923. Für den Apologeten der Siebten Kunst ist es „Telepathie der Stille, leuchtendes Evangelium von Morgen, Übersetzung einer unsichtbaren Welt in eine sichtbare Welt, um den ermüdeten, erschöpften Menschen, die gelegentlich von ihrer täglichen Arbeit entmutigt sind, Trost und persönliche Momente der Erholung und Freude zu spenden.“

Ein Eisenbahner und seine Liebe zu einer jungen Frau

Diese Komponenten seiner schwärmerischen Vorstellung vom Kino als einer moralisch erhebenden Institution finden in der melodramatisch, realistisch und auch humoristisch angelegten Geschichte von „La Roue“ ihren Widerhall. Auch autobiographische Töne (Gesundheitsprobleme seiner jungen Frau führten zur Verlagerung des Drehorts von Paris nach Nizza und in die Bergwelt; Hauptdarsteller Séverin-Mars verstarb nach dem Schnitt) sind darin enthalten. Der verwitwete Eisenbahner Sisif sorgt nach einem Zugunglück für die zweijährige Waise Norma und zieht sie mit seinem Sohn Elie in einfachen Verhältnissen auf. Der junge Mann verliebt sich in seine „Schwester“, und auch Sisif entwickelt eine un-väterliche Leidenschaft für sein Mündel, die er allerdings zu unterdrücken und zu verbergen versucht. Doch dann verlieren beide Norma an den betuchten Bahningenieur Hersan, der Sisif mit dem Geheimnis um Norma erpresst. Das Schicksal will es, dass Sisif durch ein Ungeschick seines Heizers das Augenlicht verliert und, degradiert, in der einsamen Bergwelt des Mont Blanc Arbeit annehmen muss. Beim Kampf mit Hersan auf einem Felsvorsprung stürzt Elie in die Tiefe. Aber immerhin gibt es eine späte Wiedervereinigung von Sisif und Norma: Von seiner „Tochter“ gepflegt, schläft der erblindete Alte während eines Fests der Bergbauern in der Schneelandschaft friedlich ein.

Abel Gance setzte technisch-innovative Maßstäbe

Die sogenannten Impressionisten – die erste „Nouvelle vague“ französischer Filmkünstler um Abel Gance, Louis Delluc und Germaine Dulac – bekamen nach dem Ersten Weltkrieg die Chance, ihre cineastischen Ideen zu realisieren. Der Filmhistoriker Viktor Sidler verwies dabei auf das „Atmen der Kamera, die Schwingungen des Lichts, die Visualität der Dinge, die Ausstrahlung der Räume und die licht-ummalte Sinnlichkeit der Gegenstände, die Musikalität der Bildmontage“. Gance, zunächst Literat, Verfasser von Filmszenarien, Schauspieler, Mitglied des „Film d’art“, träumte von einer kinematographischen „Symphonie in Raum und Zeit“. Wie der Amerikaner David W. Griffith mit „Intolerance“ (1916) oder der Italiener Giovanni Pastrone mit „Cabiria“ (1914) setzte er technisch-innovative Maßstäbe.    

Die lyrisch-impressionistische Fotografie von „La Roue“ gipfelt immer wieder in der rhythmischen, spannungssteigernden „Beschleunigungsmontage“ („Montage accéléré“), die Parallelen zur Schnitttechnik eines Sergej Eisenstein oder Wsewolod Pudowkin aufweist. Mehrfachbelichtungen, Parallelmontagen und Schärfeverlagerungen setzen psychologische Akzente, verbinden entfernte Schauplätze miteinander, bauen durch immer kürzere Bilderfolgen eine neue Kadenz auf.

Die „Wiedergeburt“ des Films durch die Rekonstruktion

Für die Rekonstruktion der Urfassung standen François Ede noch 14 von 32 Rollen des Kamera-Negativs sowie Kopien der Cinémathèque Suisse, Cinémathèque Française, von Lobster Films und vom Nationalen Filmarchiv Prag zur Verfügung. Komponist Bernd Thewes stellte anhand der erhaltenen Musikliste Honeggers Premierenmusik wieder her, so dass sich Abel Gances Vision des idealen Zusammenspiels von Bild und Ton nachvollziehen lässt. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Frank Strobel setzt diese Konzeption von einer eigenständigen, nicht nur illustrierenden Funktion der Musik eindrucksvoll um. Die Redaktion lag bei Nina Goslar (ZDF/arte) und Stefan Lang (DLF).

Die Restaurierung des Films macht Herkunft und Disparität der unterschiedlichen Materialien sichtbar: Die überlieferten Viragen (Tinting und Toning) mit ihren gelb-orangen, schön abgestuften Blau- und Grau-Werten unterstützen die Dramaturgie, lassen aber kein durchgängiges Muster erkennen. Die diversen Gebrauchsspuren und Schärfeabweichungen mögen einem absoluten Qualitätsanspruch nicht genügen, verweisen aber so auf die Authentizität und das Bemühen der Rekonstruktion, das vergessene und verstümmelte Meisterwerk seinem Original wieder anzunähern. 

Ein Film über die „conditio humana“

Abel Gance suchte als „verhinderter Bühnendramatiker“ seine künstlerische, seine ästhetische Verwirklichung im Film. „La Roue“, das ergreifend emotionale Drama, kontrastiert dezidiert sozial-realistische Elemente mit naiv-romantischen und auch ironisch-boulevardesken Szenen. Die Tristesse der von Kohle und Rauch gezeichneten Arbeits- und Lebenswelt in der Umgebung von Nizza leitet die epische Tragödie ein. Das proletarische, vom Alkohol bestimmte Milieu wird durch Großaufnahmen typisierter Charaktere und stimmiger Dekors in der Eisenbahnerkneipe anschaulich vermittelt. Sisifs Schuld einer besitzergreifenden, verbotenen Liebe zu Norma mündet in einen Selbstmordversuch. Dem kindlichen Verhalten und Spiel der erwachsenen Elie und Norma steht die Verschmelzung von Mensch und Maschine gegenüber.

Gance – ein missionarischer Taktgeber der Stummfilm-Avantgarde – schuf mit „La Roue“ eine Symphonie, eine Hymne auf das Leben und den Tod, auf den ewigen Kreislauf vom Werden und Vergehen. Das universelle Leid des Menschen, die individuelle wie gesellschaftliche Entwicklung erscheint als Spielball der Geschichte, in der man wie Sisif (als Sisyphus oder Christus) sein Kreuz zu tragen hat.

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