Dokumentarfilm | Deutschland 2018 | 101 Minuten

Regie: Oliver Stritzke

Ein Realschullehrer aus Rottenburg reist über ein Jahr lang um den Globus und beobachtet in 23 Ländern den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen, die gehandicapt sind. Im Mittelpunkt stehen drei längere Geschichten aus Lesotho, Medellín und dem Himalaya. Das bewegende, filmisch aber eher unspektakuläre Road Movie reflektiert akribisch die eigenen Absichten und Methoden, wehrt romantische Vorurteile ab, dass behinderte Menschen in weniger entwickelten Ländern eher integriert wären, und lotet immer wieder das Verhältnis von Inklusion und Menschenwürde aus. - Ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Infinity Studio Association Leipzig
Regie
Oliver Stritzke · Dennis Klein
Buch
Oliver Stritzke · Dennis Klein
Kamera
Dennis Klein
Musik
Mathias Gräule · Daniel Barth
Schnitt
Oliver Stritzke
Länge
101 Minuten
Kinostart
03.12.2019
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
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Ein Lehrer reist um die Welt und erkundet, wie Menschen mit Handicaps in anderen Ländern leben.

Diskussion

Vor dieser Frage dürften schon alle Dokumentarfilmer, die sich in ihrer Arbeit durch Armutsregionen bewegten, gestanden haben: Soll man notleidenden Menschen, die vor der Kamera Rede und Antwort stehen, mit einer vergleichsweise kleinen Geldspende ihr Dasein zumindest vorübergehend etwas erträglicher machen? In der Regel zahlen Dokumentaristen ihren Protagonisten eine geringe Aufwandsentschädigung, entscheiden sich jedoch gegen umfangreichere Hilfsmaßnahmen. Die Gründe sind vielfältig: Die Folgen einer solchen Handlung lassen sich nur schwer überblicken; alle anderen Personen in unmittelbarer Umgebung kämen nicht in den Genuss einer solchen Zuwendung, und überdies würden keine grundsätzlichen Probleme gelöst.

Der Filmemacher Dennis Klein, im Hauptberuf Realschullehrer in Rottenburg, und seine französische Begleiterin Martine haben dieselben Skrupel, entscheiden sich in einem Fall aber dennoch anders. Im südafrikanischen Lesotho sind sie mit der schwer gehbehinderten Rethabile bekannt geworden, die mit Mann und Kind von einem Dollar pro Tag leben muss. Die kleine Familie träumt von einem Haus, für dessen Fertigstellung lediglich 70 Euro fehlen.

Bei Crosslauf winkt eine Prämie

Zunächst beschaffen die Filmemacher Altkleider, die Rethabile verkaufen kann. Als sie den Eindruck gewinnen, dadurch Rethabiles Mann Senso zu beschämen, überreden sie ihn, an einem Crosslauf teilzunehmen, bei dem Geldprämien für die Sieger winken. Der Plan geht auf, und am Ende kommt eine erkleckliche Summe zusammen. Später folgt im Off-Kommentar jedoch die Ernüchterung: Das gesamte Geld wurde der Familie gestohlen. „Vielleicht haben wir mit unserer Hilfe letztlich mehr Probleme verursacht als gelöst“, resümieren die Filmemacher.

Diese gescheiterte Aktion ist eigentlich nur eine Randgeschichte in „Menschsein“, aber durchaus symptomatisch für die sehr persönliche Herangehensweise und das hohe Maß an Selbstreflexion, mit denen Dennis Klein zu Werke geht. So fragt er sich immer wieder, ob sein Tun nicht an Elends-Voyeurismus aus kolonialer Perspektive grenze. Dabei ist sein Ansatz eigentlich völlig unverdächtig. Nach eigenen Erfahrungen in deutschen Einrichtungen für Körperbehinderte wollte er schlicht in herausfinden, wie man anderswo in der Welt mit Menschen umgeht, die mit einem Handicap leben müssen.

Inklusion ist auch eine Frage des Geldes

Binnen 14 Monaten bereiste er kreuz und quer die Welt und besuchte Menschen aus 23 Nationen; die meisten Länder und Personen tauchen im Film allerdings nur kurz auf. Etwa die junge Kambodschanerin, die durch eine Landmine ein Bein verloren hat, oder die lebenslustige Neuseeländerin mit Down-Syndrom, die Teppiche entwirft und den Sommer nicht mag.

Der Großteil des Films, den Klein gemeinsam mit Oliver Stritzke realisiert hat, wird von drei Geschichten bestimmt. Neben der von Rethabile in Lesotho sind es die des gehörlosen Jhon Mario aus Medellín sowie die zweier indischer Ergotherapeutinnen, die sich um behinderte Menschen in den entlegenen Dörfern des Himalaya kümmern. Die Liebenswürdigkeit, mit der sie sich der meist kleinen Patienten annehmen, beeindruckt nachhaltig. Sie erzählen aber auch davon, dass das Wohlergehen behinderter Menschen stark davon abhänge, ob sie auf dem Land oder in der Stadt leben.

Inklusion ist auch eine Frage des Geldes

Bei der ländlichen Bevölkerung hätten sie überdies oft gegen Vorurteile anzukämpfen. Ein Junge, der unter Epilepsie und einer Muskelkrankheit leidet, wird bei Anfällen von seinem Großvater regelmäßig verprügelt, weil der meint, dass die Krankheit von bösen Geistern verursacht werde, denen nur mit Schlägen beizukommen sei.

Es ist durchaus positiv, dass der Film romantischen Vorstellungen keinen Vorschub leistet, der Status von behinderten Menschen sei in weniger entwickelten Ländern besser als hierzulande. Auch dort ist Inklusion immer auch eine Frage des Geldes. Allerdings begegnen die Filmemacher immer wieder Helferinnen, die weit mehr tun, als nur ihren Job zu erledigen. „Deutschland ist Erste Welt“, sagt eine ältere Frau in Lesotho, „wir sind nicht mal Dritte. In Deutschland denkt man viel über Geld nach, hier nicht. Deshalb arbeiten wir auch ohne Geld, wo es ums Menschsein geht.“

Weinen und Lachen

Als Beispiel für eine gelungene Inklusion kann Jhon Mario in Medellín gelten. Obwohl seine Eltern weder lesen noch schreiben können, arbeitet der Gehörlose seit 17 Jahren als Mechaniker. Seinen Kollegen hat er die Gebärdensprache beigebracht und er gibt auch Kurse in öffentlichen Einrichtungen. Eine Freundin habe er auch mal gehabt, sagt er lachend, aber inzwischen sei er an einer Beziehung nicht mehr interessiert. Für ihn sei es wichtiger, seiner Mutter zu helfen. Das mag man ihm glauben oder auch nicht.

Filmisch ist dieses dokumentarische Road Movie nicht sonderlich ambitioniert. Die Unterteilung in Kapitel wie „Mitgefühl“ oder „Würde“ ist so unspektakulär wie die dezente Filmmusik, meist vom Klavier, hie und da aber um regionale Klänge ergänzt. Dennoch ist „Menschsein“ ein bewegender, sehr persönlich gehaltener Film zum Thema Behinderung und Menschenwürde, in dem viel geweint, aber auch gelacht wird.

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