Der nackte König - 18 Fragmente über Revolution

Dokumentarfilm | Deutschland/Polen/Schweiz 2019 | 108 Minuten

Regie: Andreas Hoessli

In einem recht persönlichen Doku-Essay rekapituliert der Dokumentarist Andreas Hoessli seine Erfahrungen mit der polnischen Solidarność-Bewegung Ende der 1970er-Jahre und kontrastiert die gesellschaftliche Erhebung der Arbeiter mit der islamischen Revolution 1979. Dazu zitiert er immer wieder auch die Aufzeichnungen des polnischen Reporters Ryszard Kapuściński, der den Sturz des Schahs aus nächster Nähe mitverfolgte. Der selbstreflexive Film umkreist die Frage nach den Energien und Hoffnungen kollektiver Erhebungen, und warum die Utopien des Aufbruchs nicht lange tragen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DER NACKTE KÖNIG - 18 FRAGMENTE ÜBER REVOLUTION
Produktionsland
Deutschland/Polen/Schweiz
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Mira Film/Centrala/TM Film/Telewizja Polska/arte
Regie
Andreas Hoessli
Buch
Andreas Hoessli
Kamera
Peter Zwierko
Schnitt
Lena Rem
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
W-film
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Essayistischer Dokumentarfilm über die Dynamik von Revolutionen, wie sie 1979 im Iran und ein Jahr später in Polen Bahn brachen, ihre Hoffnungen und Utopien aber bald unter sich begruben.

Diskussion

Gespenstisch hallt das Echo einer vergangenen Revolution in die Dunkelheit des filmischen Raumes, noch bevor sich die Stimmen einer protestierenden Menschenmenge mit den Aufnahmen eines prunkvollen Schreins verknüpfen. Das Mausoleum des Revolutionsführers Ayatollah Chomeini wird von zahllosen Pilgern besucht, entzieht sich aber dem Auge der Kamera immer wieder durch dunkle Vorhänge, die sich vor dem Innersten des Schreins im Wind bewegen. Eine nächtliche Autofahrt schließt an diese Eindrücke an. Auf unheimliche Weise beleuchtet, ragt ein Gebäude aus der Dunkelheit hervor, das sich als der Warschauer Kulturpalast zu erkennen gibt. Wieder ist das Anschwellen einer Demonstration im Off zu hören, diesmal allerdings über das Bild einer verlassenen Schiffswerft gelegt.

Der Schweizer Filmemacher Andreas Hoessli nähert sich in dem dokumentarischen Essay „Der nackte König“ zwei einschneidenden historischen Momenten. Auf poetische Weise sucht er nach Resonanzen zwischen der islamischen Revolution im Iran 1979 und der Solidarność-Bewegung im kommunistischen Polen ein Jahr später. Zwei Ereignisse, die fast zur selben Zeit Menschen auf die Straße trieben und Gewaltregimen die Stirn boten, die für einen flüchtigen Augenblick ihrer Macht entblößt schienen. Wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen interessiert sich Hoessli für den Umschlagpunkt von Herrschaft. Ein schlecht beratener Souverän wird in der Erzählung vor dem versammelten Volk von einem Kind als nackt enttarnt, weshalb der Bann des schweigenden Einvernehmens unvermittelt gebrochen ist.

Von Gespenstern heimgesucht

Subjektive Erinnerungen öffnen sich auf die historische Zeit des vielfältigen Archivmaterials hin, das Hoessli durch ein zurückgenommenes Voice-Over miteinander zu verweben beginnt. In der Fahrt durch die Warschauer Nacht hört man den Erzähler von einem Gespenst sprechen, das neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat. Dass die markante Stimme dem 2019 verstorbenen Bruno Ganz gehört, trägt mit dazu bei, dass einen die traumartige Montage in einen melancholischen Zwischenraum der Geschichte hineinzieht.

In den 1970er-Jahren war Andreas Hoessli mit einem Doktorandenstipendium in Polen zu Forschungszwecken unterwegs. Seine Arbeit widmete sich einer Analyse der Machtverhältnisse, was ihn auf das Radar der Geheimpolizei brachte. Als er die ehemaligen Funktionäre vor die Kamera holt, nimmt der Filmessay eine investigative Wendung. In den mittlerweile freigegebenen Akten der polnischen Staatssicherheit hat er die Namen der Männer erfahren, die auf ihn angesetzt waren, um ihn unter Druck zu setzen und als Informanten zu gewinnen. Heute sprechen die ehemaligen Funktionäre recht nüchtern über das damals übliche Prozedere im politischen Apparat.

Der Brückenschlag zum Iran stellt sich über Hoesslis Begeisterung für die lebhaften Reportagen des polnischen Reporters Ryszard Kapuściński her. Dessen Faszination über die politische Gestaltungsfähigkeit des Menschen führte ihn immer wieder in Länder, die sich gerade im Umbruch befanden. 1982 veröffentlichte der Journalist mit „Schah-in-Schah: Eine Reportage über die Mechanismen der Macht und des Fundamentalismus“ seine Eindrücke über die iranische Revolution in Teheran. Immer wieder greift Hoessli daraus Teile auf und setzt sie mit seinen eigenen Aufnahmen in Beziehung, befragt die Notizen von Kapuściński durchaus auch kritisch. Wie sehr die historischen Umwälzungen von 1979 die iranische Gesellschaft noch immer prägen, ist weithin bekannt. Doch in den Gesprächen mit Schriftstellern, Kreativen und historisch wichtigen Akteuren vermittelt sich eine Ambivalenz gegenüber der eigenen Geschichte, die nur subtil und indirekt artikuliert werden kann: Die islamische Revolution ist zum Dogma geworden, doch die Hoffnungen, welche die Menschen mit ihr verbanden, wurden zutiefst enttäuscht.

Schwellenzustände und Utopien der Gemeinschaft

Eine besondere Kraft entfaltet „Der nackte König“ immer dort, wo zwischen dem beeindruckenden Fundus des historischen Filmmaterials aus beiden Ländern und Hoesslis atmosphärischen Gegenwartsaufnahmen eine Spannung entsteht. Die Einsamkeit eines Hotelzimmers mit Blick auf die Lichter der polnischen Hauptstadt tritt in Kontrast zur Ekstase der demonstrierenden Menge, die sich durch die Straßen Teherans schiebt. Sanfter Jazz und die Spiegelungen in bläulichen Glasfassaden betrauern den Verlust gesellschaftlicher Solidarität, wie sie die polnischen Arbeiter um Lech Wałęsa möglich zu machen schienen, als sie die Danziger Werft besetzten.

Manchmal vermisst man bei diesen assoziativen Montagen eine nähere Analyse der Differenzen zwischen beiden historischen Ereignissen. Denn auch wenn sich bei revolutionären Bewegungen Schwellenzustände beobachten lassen, deren temporäre Gemeinschaften der Ethnologe Victor Turner als „Communitas“ bezeichnet, so unterscheiden sich diese in den kulturellen Kontexten doch deutlich. Während die streikenden Arbeiter auf der Werft die Freiheit zur Bildung von unabhängigen Gewerkschaften und eine Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft fordern, war die islamische Revolution gegen den Schah von Beginn an von einer religiösen Erlösungserwartung dominiert, an der alle Hoffnungen auf Demokratisierung und politischer Freiheit schnell und brutal zerbrachen.

So durchzieht die selbstreflexiven Erzählungen und die ausdrucksstarke Komposition von Erinnerungsbildern, die Andreas Hoessli komponiert, die schwerwiegende Frage, warum die Kraft der Öffnung der Menschen zueinander, die sich für die kurze Zeit der Revolution ereignet, so schnell wieder unterdrückt werden kann. Jenen, die sich daran erinnern, bleibt eine tiefe Trauer und Enttäuschung.

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