Dokumentarfilm | Italien/Deutschland/Österreich 2019 | 83 Minuten

Regie: Valentina Primavera

Nach 40 Jahren trennt sich eine Italienerin von ihrem Ehemann, der sie in dieser Zeit unterdrückt und geschlagen hat. Ihre Tochter dokumentiert das einschneidende Ereignis mit der Kamera, bezieht aber auch die Verwandtschaft in ihre Beobachtungen mit ein und stellt damit die Rolle des Vaters als alleinigem Täter in Frage. Über Gespräche und Alltagssituationen entlarvt der Film traditionelle Vorstellungen von Müttern und Vätern, die ein solches Unrecht überhaupt erst möglich machen. Auch wenn sich der Film bisweilen in Details verliert, gewährt er durch die persönliche Perspektive einen intimen Einblick in die ebenso tröstliche wie zerstörerische Dynamik einer Familie. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UNA PRIMAVERA
Produktionsland
Italien/Deutschland/Österreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Valentina Primavera Prod.
Regie
Valentina Primavera
Buch
Federico Neri · Valentina Primavera
Kamera
Valentina Primavera
Musik
Macarena Solervicens
Schnitt
Federico Neri
Länge
83 Minuten
Kinostart
02.01.2020
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Vielschichtiger Dokumentarfilm über eine Italienerin, die sich nach 40 Jahren von ihrem Ehemann trennt, der sie Zeit ihres Lebens unterdrückt hat.

Diskussion

Es ist nur ein beiläufiger Kameraschwenk, der aber das ganze Drama, das in „Una Primavera“ steckt, in einem einzigen Bild verdichtet: Während eine Hündin erschöpft und teilnahmslos auf dem Rücken liegt, macht sich eine ganze Horde Welpen gierig an ihren Zitzen zu schaffen. Der Dokumentarfilm erzählt von der Opferbereitschaft einer Mutter, die zwar gemeinhin als etwas Natürliches akzeptiert wird, hier aber als strukturelle Ungerechtigkeit entlarvt wird.

Die italienische Regisseurin Valentina Primavera dokumentiert in ihrem Debüt ein einschneidendes Ereignis im Leben ihrer Mutter Fiorella. Nach 40 Jahren Ehe trennt Fiorella sich von ihrem Mann, der sie kleingemacht, unterdrückt und auch geschlagen hat. Der Titel des Films bezieht sich dabei nicht nur auf den Familiennamen, sondern auch auf den Frühling als Metapher für einen Neuanfang, der für Fiorella zwar unvermeidbar ist, aber keineswegs so blumig und beflügelnd ausfällt, wie man vielleicht meinen könnte.

Alltagssituationen & Gespräche

Dabei erweist es sich geradezu als Stärke des Films, dass die Regisseurin den Blick ausschließlich auf die eigene Verwandtschaft richtet. Die Kamera wird zwar von den Beteiligten immer wieder als Störfaktor betrachtet, doch ist die Anwesenheit der Filmemacherin vertraut genug, um eine intime Atmosphäre zu schaffen. Die Alltagssituationen und Gespräche wirken in „Una Primavera“ deshalb mehr wie spontane Beobachtungen als wie etwas, das extra für die Kamera inszeniert wurde. 

Valentina Primavera begreift ihre Familienmitglieder als komplexe Figuren, die sich allzu eindeutigen Zuschreibungen entziehen. Selbst der Vater, zu dem die Regisseurin ein äußerst angespanntes Verhältnis hat, wie ein aggressiver Streit im Auto belegt, tritt hier nicht als Täter auf. Wenn der Patriarch während einer Konfrontation mit der Mutter plötzlich wimmernd in der Ecke kauert, triumphiert der Film nicht über den Peiniger, sondern zeigt einen Mann, der immer nur Stärke demonstrieren musste und nun von seinen eigenen Gefühlen heillos überfordert ist.

Mehr an gesellschaftlichen Kontexten interessiert

„Una Primavera“ ist mehr an gesellschaftlichen Zusammenhängen als an individuellen Schuldzuweisungen interessiert und lenkt deshalb die Aufmerksamkeit immer wieder auch auf andere Familienmitglieder. Manchmal verliert er sich dabei in Details, die mit dem eigentlichen Thema nicht mehr viel zu tun haben. Wenn sich die Filmemacherin mehrmals dem besonderen Verhältnis zu ihrer Nicht widmet, wirkt das ein wenig beliebig, weil die emotionale Bedeutung zwar vorausgesetzt, dem Publikum aber nicht immer schlüssig vermittelt wird.

Zugleich sind es aber gerade die Nebenfiguren, die das repressive gesellschaftliche Klima besonders deutlich veranschaulichen. Die einsame, aber robuste Großmutter etwa, die für ein archaisches Frauenbild steht, dessen Erfüllung vor allem in der Unterwerfung liegt. Oder Fiorellas Schwiegersohn und Schwager, die ein bisschen zu übereifrig den Vater als vermeintlich wahres Opfer in Schutz nehmen. Letzterer entschuldigt die Verfehlungen des Patriarchen sogar mit einem Mussolini-Zitat: „Lieber einen Tag als Löwe leben als hundert Jahre ein Schaf sein“.

Am eindrücklichsten zeigt „Una Primavera“, wie sich Traditionen und Gewohnheiten derart tief in die Menschen einschreiben, dass es im Alter unvorstellbar scheint, sich davon noch zu lösen. Wenn Fiorella ihre Tochter in Berlin besucht oder bei ihrer Rückkehr nach Italien eine eigene Wohnung bezieht, plagen sie dabei stets Zweifel, ob ihre Entscheidung auch die richtige war. Liebe und Familie lassen sich in „Una Primavera“ nicht isoliert betrachten, sondern sind in ein komplexes Netz aus indoktrinierten Schuldgefühlen, Angst vor Einsamkeit und finanzieller Abhängigkeit eingehüllt.

Die Fesseln des Vergangenen

Statt einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen, entscheidet sich Fiorella schließlich dafür, doch wieder in das über Jahrzehnte abbezahlte Haus mit ihrem Ex-Mann zu ziehen. Man könne dort ja auf verschiedenen Stockwerken leben. In diesem faulen Kompromiss vereint der Film dann noch einmal den schweren und mutigen Schritt Fiorellas mit der Unmöglichkeit, sich ganz von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen.

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