Lost in Face - Die Welt mit Carlottas Augen

Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 84 Minuten

Regie: Valentin Riedl

Der Neurowissenschaftler Valentin Riedl stieß bei seiner Forschung über menschliche Wahrnehmung auf eine künstlerisch begabte Frau, die an einer seltenen kognitiven Störung leidet und Menschen nicht an ihren Gesichtern erkennen kann. Mit der Kamera forscht er ihren Erfahrungen und ihrer Lebensgeschichte nach und übersetzt ihre Traumtagebücher in animierte Sequenzen. Darüber entsteht das berührende Porträt einer wundersamen Außenseiterin, das nahelegt, dass das Gehirn keine Black Box ist, sondern aus einem vielschichtigen Zueinander von Individuum und sozialer Umwelt erwächst. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
CORSO
Regie
Valentin Riedl
Buch
Valentin Riedl · Frédéric Schuld
Kamera
Doro Götz
Musik
Antimo Sorgente
Schnitt
Ivan Morales jr.
Länge
84 Minuten
Kinostart
30.09.2021
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb | TMDB

Berührendes Porträt einer Frau, die unter Gesichtsblindheit leidet und darüber den Neurowissenschaftler Valentin Riedl zu einem besseren Verständnis des Gehirns animiert.

Diskussion

Die Nahaufnahme einer Frau, verschwommen vor einem schwarzen Hintergrund, weckt die Erwartung, dass ihr Gesicht aus der Unschärfe hervortritt. Doch eine Klarheit stellt sich nur partiell ein. Der konturlose Schleier wabert weiter durch die Einstellung, das Fokussieren schlägt fehl.

Es ist nur eine leichte Irritation, die sich in dieser getrübten Face-to-Face-Begegnung einstellt, doch sie vermittelt eine Ahnung davon, wie grundsätzlich bezogen Menschen auf das Gesicht ihres Gegenübers sind. Während man sich bemüht, ihr Gesicht zu erkennen, erinnert sich die Protagonistin Carlotta an einen ihrer Versuche, jemanden auf einem Foto zu identifizieren. Es stellte sich heraus, dass es sich bei der Aufnahme gar nicht um die einer Person handelte, sondern um einen Menschenaffen. Ein bedeutungsvolles Verkennen, denn es gibt eine Eigenschaft, die wir mit dieser Spezies teilen: die Fähigkeit, aus Gesichtern soziale Bedeutung ablesen zu können. Carlotta aber ist gesichtsblind; sie hat eine seltene kognitive Störung, die den klangvollen Namen „Prosopagnosie“ trägt.

Der Neurowissenschaftler Valentin Riedl ist mit Carlotta über die Bilder bekannt geworden, die sie von sich selbst malt. Berührende Selbstporträts in mehrfacher Hinsicht: Carlotta erkennt sich im Spiegel nicht; wenn sie sich zeichnet, fährt sie mit der zweiten Hand die Konturen ihres Gesichts nach. So entsteht auch ein inneres Bild, das sich auf dem Papier in Linien übersetzt; es ist aber anders als eines, das durch visuelle Reflexion entsteht.

Gesicht und Verletzbarkeit

Riedl hat mit seinem Langfilmdebüt „Lost in Face“ die Disziplin gewechselt, um mit filmischen Mitteln derselben Frage nachzugehen: Wie kann man sich menschliche Wahrnehmung vorstellen? Was ist an ihr spezifisch und einzigartig, im Vergleich zu allgemein geteilten Merkmalen?

„Lost in Face“ verfügt über eine neurowissenschaftliche Ausgangsfrage, ist aber kein essayistischer Thesenfilm, sondern ein persönliches Porträt. Um sich ein Bild machen zu können, was die Gesichtserkennung für den Menschen bedeutet, hört der Film Carlotta zu, wie sie ihre Lebenswirklichkeit und ihre Erfahrungen schildert. Als Riedl sie in ihrem abgelegenen Zuhause besucht, das ihr auch als Atelier dient, spürt man eine Anspannung. Die lockere Einladung, sein Gesicht zu berühren, ist ihr zutiefst unangenehm, geradezu unvorstellbar. Es vermittelt sich eine Ahnung davon, wie viel an Intimität und Verletzbarkeit im Gesicht eines Anderen angelegt ist; nicht umsonst ist die Metapher des Gesichtsverlusts mit tiefer Scham und sozialer Auslöschung verbunden.

Sich ein Bild von sich machen

Carlottas Erinnerungen sind von der Ausgrenzung durch Gleichaltrige und Abwertungen in der Schulzeit geprägt. Ihre eigene Besonderheit fiel ihr erst außerhalb des engen familiären Rahmens auf. Im sozialen Raum wurde ihr klar, dass sie nicht an jener alltäglichen Kommunikation teilnehmen kann, die Abstimmungen über das Gesicht erfordert und einen maßgeblichen Teil unserer Beziehungen regelt.

Carlotta zog sich zurück und verwirklichte sich in ganz eigenwilliger und mutiger Weise. Mit einem Segelboot reiste sie allein durch die Welt, versorgte sich an abgelegenen Küsten mit selbst gefangenen Fischen. Als der Rückzug in die Wildnis an einer chronischen Erkrankung scheiterte, fand sie auch in der Heimat andere Wege, wurde LKW-Fahrerin und landete schließlich als Filmvorführerin im Kino.

Daraus erwuchs eine eigenwillige Passion zum Bewegtbild. Auch wenn Carlotta den Schauspielern nicht folgen kann, schaut sie ihnen bei der Arbeit doch immer wieder zu.

Später begann sie, mit ihrer kleinen Digitalkamera täglich stundenlang Material von sich selbst aufzuzeichnen. Im Film als Medium scheint eine Form der Spiegelung möglich, die Selbsterfahrungen auch abseits von menschlichen Kontakten möglich macht. Während Riedl ihre Schilderungen aufzeichnet, sieht man sie immer wieder mit ihren Tieren, vor allem ihrem Pferd.

Wie Wahrnehmung und soziale Welt zusammenhängen

Unterbrochen wird die filmische Begleitung Carlottas durch längere Animationssequenzen, in denen der Filmemacher ihre Traumtagebücher visuell zu übersetzen versucht. Das gelingt durch den illustrativen Charakter dieser Bebilderungen aber nur begrenzt. „Lost in Face“ greift das bereits Gesagte auf, ohne an die abstrakteren Dimensionen der Wahrnehmung heranzukommen, über die man Carlottas Erleben vielleicht näherkommen könnte. Auch ihr künstlerisches Empfinden kommt zu kurz. Vor allem den Prozess zwischen Selbstberührung und entstehendem Porträt hätte man gerne in ihren Worten beschrieben gehört.

Etwas unbelichtet bleibt auch die Geschichte ihrer Adoption, von der sie erst durch einen Zufall erfuhr. Ein MRT-Scan von Carlottas Gehirn zeigte erstaunlicherweise keine Auffälligkeiten in der für die Gesichtserkennung besonders wichtigen Region des Gehirns. In ihrer tiefen Angst vor Nähe deutet sich jedoch ein frühes Bindungstrauma an, das mit der Trennung von der leiblichen Mutter verbunden sein könnte.

„Lost in Face“ legt nahe, dass unser Gehirn keine Blackbox ist und dass (Selbst-)Wahrnehmung vom anderen her entsteht. Auch die Gesichtsblindheit ist ein graduelles Phänomen, das im vielschichtigen Ineinander von Erleben und sozialer Umwelt entsteht und wirkt.

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