Die Frau, die rannte

Drama | Südkorea 2019 | 77 Minuten

Regie: Hong Sang-soo

Als ihr Gatte auf eine Geschäftsreise geht, ist eine koreanische Frau zum ersten Mal seit Jahren allein und nutzt die Zeit zum Besuch bei zwei Freundinnen in Seoul, zudem begegnet ihr später eine dritte Freundin. In ihren Gesprächen erkennt die sich glücklich wähnende Frau allmählich, auf welch tönernen Füßen ihr Leben und ihre Beziehung in Wahrheit aufgebaut sind. In drei klar unterscheidbare Episoden unterteiltes Dialogdrama, in dem Variationen wiederkehrender Themen und kleine Sprachnuancen Lebenslügen, Kompromisse und Gräben zwischen den Geschlechtern in Südkorea offenbaren. Die minimalistische, aber äußerst aufmerksame Inszenierung deckt die feinen Schattierungen der Figuren mit nonchalanter Beiläufigkeit auf. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DOMANGCHIN YEOJA
Produktionsland
Südkorea
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Jeonwonsa Film Co.
Regie
Hong Sang-soo
Buch
Hong Sang-soo
Kamera
Kim Sumin
Musik
Hong Sang-soo
Schnitt
Hong Sang-soo
Darsteller
Kim Min-hee (Gam-hee) · Seo Young-hwa (Young-soon) · Song Seon-mi (Su-young) · Kim Sae-byuk (Woo-jin) · Lee Eun-mi (Young-ji)
Länge
77 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Als ihr Gatte auf eine Geschäftsreise geht, ist eine koreanische Frau zum ersten Mal seit Jahren allein und nutzt die Zeit, um alte Freundinnen in Seoul zu treffen. Lebensentwürfe werden auf den Prüfstand gestellt.

Diskussion

Über die vielen Filme von Hong Sang-soo schreiben, bedeutet auch: Inventur machen. Was ist da und wie oft, was fehlt diesmal? Was steht im Raum, obwohl man es nicht sehen kann, was ist sichtbar, aber abwesend? In „Die Frau, die rannte“ von 2020 trifft sich eine Protagonistin namens Gamhee, gespielt von Hongs Partnerin Kim Min-hee, in drei knappen Episoden mit jeweils einer alten Freundin, während ihr Mann auf Dienstreise ist. So schwelgen sie dann in Erinnerungen und blicken in die Zukunft, suchen nach Anknüpfungspunkten und nesteln ungelenk am Schorf alter Wunden herum. Sie gleichen Lebensmodelle ab und zweifeln mal lauter und mal leiser an ihrem eigenen, ohne sich wirklich eine Alternative vorstellen zu können.

Die stabilen Existenzen haben unwägbare Grauzonen

Dreimal wird Gamhee darüber sprechen, dass sie und ihr Ehemann fünf Jahre lang nie getrennt waren, dreimal werden Männer auftreten, die jeweils nur mit dem Rücken zur Kamera zu sehen sind. Sie sprechen lange, aber ihre Gesichter flackern nur kurz auf. (Damit sind sie immer noch menschlicher als die bedrohlichen Schattenmänner aus Hongs „On the Beach at Night Alone“.) Dreimal wird es um schwierige Beziehungen und das Altern gehen. Dreimal wird das Gespräch auf andere Stockwerke gelenkt, in denen Verlockendes und Gefährliches lauert. Die vermeintlich stabilen Existenzen haben unwägbare Grauzonen.

Dreimal wird gegessen, nicht ein einziges Mal (und das ist bemerkenswert) wird der Reisschnaps Soju dazu getrunken. Eigentlich gehörte er zu der Essenz von Hongs Kino. Zweimal werden Äpfel geschält, und beide Male betonen die Schälenden, sie wären nicht sonderlich gut darin. Was nicht erwähnenswert wäre, würde es nicht zweimal passieren; die Wiederholung hebt es gleichzeitig hervor und trivialisiert es.

Kunst und Leben verschmelzen

Erstaunlicherweise lässt die künstliche Mathematisierung der Welt sie umso natürlicher erscheinen. Hongs auffällige Strukturen arbeiten immer an der eigenen Verschleierung, Kunst und Leben verschmelzen. Oder fließen zumindest ineinander, um in dieser Berührung sichtbar zu machen, was sie unterscheidet. Die absonderlichen Déjà-vus und Schleifen des Alltags werden unübersehbar, die theatralischen Rituale und neurotischen Zwänge des Zwischenmenschlichen herausgearbeitet. Gespräche drehen sich im Kreis.

Menschliche Unordnung entsteht im Kino oft erst durch äußere Ordnung. Hongs Form ist vertraut, seine berühmten Zooms verweisen hier auf die Beziehung zwischen den kleinen Gesprächsgruppen und der Welt um sie herum. Das Erzählte zoomt schließlich auch immer zwischen individuell-spezifischer und universeller Erfahrung. In diesem unverhohlen melancholischen Film sind sie außerdem eine Drohung: Das Damoklesschwert der Einsamkeit hängt über allen Figuren. Zoomt die Kamera einmal zu nah heran, ist man plötzlich allein im Bild und in der Welt.

Eine weitere Miniatur in Hong Sang-soos Gesamtwerk

Einen einzelnen Film von Hong Sang-soo zu rezensieren ist natürlich so sinnvoll, wie ein abgeworfenes Blättchen eines Waldes zu beurteilen. Wie kaum ein anderer Autorenfilmer der Gegenwart arbeitet er an einem Gesamtwerk. Emsig wiederholt und variiert er seine verstolperten Gesellschaftstänze rund um egozentrische Künstler und ihre Liebschaften. In den letzten Jahren zunehmend minimalistisch, mit immer simpleren Pinselstrichen. Wie wenig kann ein Film enthalten, sodass er nur ausfranst und sich an den Rändern öffnet, aber nicht auseinanderfällt?

Jede Miniatur fügt seiner Fremd- durch Selbstbetrachtung etwas Neues hinzu. „In Front of Your Face“ von 2021 etwa begegnet dem in seinen frühen Filmen lockenden, mittlerweile drohenden Tod mit ungeahnter Religiosität. „Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall“ glaubt ungewöhnlich stark an die Liebe durch das Kino. Und „Die Frau, die rannte“ erweitert die ewige Flucht seiner Figur Young-hee (ebenfalls von Kim Min-hee gespielt) aus „On the Beach at Night Alone“ zur universellen Erfahrung.

„Die Frau, die rannte“ könnte also ebenso gut „Die Frauen, die rannten“ heißen. Alle weiblichen Figuren mussten auf ihre eigene Weise entrinnen. Im ersten Drittel trifft Gamhee auf Young-soon (Seo Young-hwa), die seit ihrer Scheidung mit einer Freundin zusammenwohnt und Hühner züchtet. Sie streitet mit einem Nachbarn über das Füttern von Wildkatzen, und durch die magische Spontaneität von Hongs Kino setzt eine gelangweilte Katze die perfekte Pointe für das menschliche Gehabe. Das Leben streckt sich in den Film. Noch diese Zufallsgeste ist ein Echo: Schon in „Hotel by the River“ von 2018 zoomt Hong auf eine unbedacht ins Bild schlendernde Katze. Können Filmemacher an Zufälle glauben oder müssen sie als Weltenordner nicht zwangsläufig dem Schicksal huldigen?

Das Kino führt vor, das alles anders sein könnte

In der zweiten Episode geht es um eine frühere Choreographin, die jetzt nur noch Pilates unterrichtet, sich aber immer noch als kunstbegabte Bohemienne fühlt. In der letzten ist Gamhee die davongelaufene, denn die Kinobetreiberin Woo-jin (Kim Sae-Byuk) ist jetzt mit ihrem früheren Partner, einem berühmten Autor, verheiratet. Er ist das Einzige, was von der typischen männlichen Hong-Hauptfigur bleibt, die sonst den Regisseur verdoppelt. Wobei ihre narzisstische Ichversessenheit, ihre adoleszente Poesie und die als Schild gegen die Welt gehobenen Schwächen sich in allen auftretenden Männerfiguren widerspiegeln. Im davongelaufenen Vater, in dem unglücklich verliebten Dichter, selbst in dem gemeinen Hahn, der die Hühner piesackt. Es ist auf Dauer unmöglich, im Kino von Hong etwas zu verdrängen, es kehrt ohnehin immer zurück, mit doppelter Kraft.

Doch wo einmal diese Art von Unvermeidbarkeit behauptet wird, bietet der Südkoreaner natürlich sofort wieder eine Fluchtmöglichkeit: das Kino. Wie könnte es anders sein. Wenn Regisseure Kunst und Leben zusammenführen, dann meist, um die echte Welt so beherrschbar wie die fiktionale zu machen. Das Kino, gerade Hongs, führt vor, das alles anders sein könnte. Ausgerechnet der Eskapismus führt ins Leben zurück.

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