Drama | Brasilien 2019 | 110 Minuten

Regie: Daniel Nolasco

Ein Mann mittleren Alters, der nicht offen zu seiner Homosexualität stehen will, gerät in den Sog seiner eigenen Fantasien, die einen tieferliegenden Konflikt offenbaren. In der Abwehr von Nähebeziehungen fühlt er sich zunehmend von rätselhaften sadomasochistischen Träumen heimgesucht. Als ein hypermaskuliner junger Mann in der Gegend auftaucht und ambivalente Signale ausstrahlt, entfaltet sich ein inneres Drama um Eifersucht, Hingabeangst und fetischistische Spiele. Der im ländlichen Teil Brasiliens spielende Film verschreibt sich einer surreal ästhetisierten erotischen Träumerei mit expliziten Hardcore-Szenen, eröffnet aber auch utopische Räume der Erkundung von Sexualität und Gewalt. - Ab 18.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
VENTO SECO
Produktionsland
Brasilien
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Panaceia Filmes
Regie
Daniel Nolasco
Buch
Daniel Nolasco
Kamera
Larry Machado
Musik
Natalia Petrutes
Schnitt
Will Domingos
Darsteller
Leandro Faria Lelo (Sandro) · Allan Jacinto Santana (Ricardo) · Renata Carvalho (Paula) · Rafael Theophilo (Maicon) · Del Neto (David)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 18
Pädagogische Empfehlung
- Ab 18.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
GMfilms (16:9, 1.85:1, DD2.0 port.)
DVD kaufen

Drama um einen Brasilianer mittleren Alters, der nicht offen zu seiner Homosexualität stehen will, sich aber im Sog seiner Fantasien zu verlieren droht.

Diskussion

Eine hautfarbene Plane hebt und senkt sich im Luftstrom unter einem azurblauen brasilianischen Sommerhimmel. Kurz darauf verschränkt sich diese ebenso schöne wie rätselhafte Einstellung mit dem Blick auf einen Männerkörper, der in einen leuchtenden Swimming Pool springt. Die Kamera bleibt nah an der Haut, einem stark behaarten Rücken. Der korpulente Sandro (Leandro Faria Lelo) setzt sich nach einer durchschwommenen Bahn an den Beckenrand und lässt seinen Blick streifen. Die Naheinstellungen auf enge Badehosen und Gesichter begehrter Jünglinge entfalten eine erotische Träumerei, der Sandro nachhängt, bis er durch eine reale Kontaktaufnahme irritiert wird: Ein junger Mann, der sich ihm genähert hat, zwinkert ihm kurz schelmisch zu, bevor er selbst ins kühle Nass springt.

Die Region Goiás im Herzen Brasiliens zeichnet sich vor allem durch ihre ausgedehnte Trockenzeit aus. Zwischen Juni und September versiegt die Strömung des Flusses Araguaia, sodass sich seine Ufer in kilometerlange Strände verwandeln. In „Vento Seco“ von Daniel Nolasco werden diese klimatischen Bedingungen mit den anschwellenden Begierden und Ängsten der Protagonisten verschränkt. Der eingeblendete Wetterbericht wird so zur äußeren Rahmung einer mäandernden Reihe von erotischen Begegnungen, die häufig die Grenzen zwischen Traum, Fantasie und Realität überschreiten.

Eine Art Utopie

Sandro verabredet sich noch in der Herrendusche per Chat zu einem Treffen im Wald. Die Architektur des Bades mit seinen hoch ästhetisierten Neonlichtern verschiebt die reale Handlung dabei dezent in einen Raum des Begehrens mit Assoziationen zur Ästhetik schwuler Sexclubs. So wird von Beginn an deutlich, wie die Inszenierung sich von den realen Verhältnissen der brasilianischen Landbevölkerung löst und eine Art Utopie in einem geschützten filmischen Raum schafft.

Gemeinsam mit seiner besten Freundin Paula arbeitet Sandro in einer Düngemittelfabrik, die den Alltag der meisten Menschen in der Region bestimmt. Als engagierte Gewerkschafterin für Arbeitssicherheit steht Paula häufig im Zentrum der Belegschaft. Ihr offenes Leben als Transgender wird dabei zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt und auch vom Film mit großer Selbstverständlichkeit in Szene gesetzt.

Im Gegensatz dazu kämpft Sandro jedoch nicht nur mit seinem Outing, sondern auch einem tieferliegenden Konflikt, der sich beim Sex-Date im Dickicht bereits abzeichnet. Obwohl er aufgrund seiner Statur durchaus in die „Bear“- oder „Daddy“-Kategorie subkultureller schwuler Identität fallen würde, lässt er sich von dem jungen Mann erniedrigen und zeigt ein fetischistisches Interesse an dessen Lederjacke, die er ableckt. Ricardo wiederum, der sich als Arbeitskollege erweist, scheint an einer festen Bindung zu Sandro interessiert. Doch Sandro will mehr eine bestimmte Fantasie ausleben, als sich tatsächlich auf eine Nähebeziehung einlassen.

Auf der Achterbahn

In immer wiederkehrenden Träumen wird Sandro von einer sadomasochistischen Szene verfolgt: Ein älterer, väterlich wirkender Mann in Ledermontur hält einen Jüngling an einer Hundeleine und uriniert auf ihn. An welchem Pol sich der Träumende dabei befindet, bleibt für ihn selbst unklar.

Als ein dritter Mann Teil des Geschehens wird, kommt Bewegung in Sandros festgefahrene Konflikte. Maicon präsentiert sich auf seinem Motorrad mit Ledersitz wie ein Charakter aus den Illustrationen des Künstlers Tom of Finland. Die zur Schau gestellte Hypermaskulinität des blondierten Muskelmannes fesselt Sandro vom Augenblick ihrer ersten Begegnung an. Allerdings präsentiert sich Maicon stets mit seiner kurzhaarigen Freundin, so dass sich ein Gefühl von Unerreichbarkeit einstellt, was Sandro noch mehr anstachelt.

In einer atemberaubend gefilmten Szene auf einem Jahrmarkt steigt der blonde Hüne zufällig in denselben Achterbahnkäfig wie Sandro, um seine ihn filmende Begleitung zu beeindrucken. Als sich die Kapsel dem Überschlag nähert, ergreift Maicon verängstigt wie ein Kind plötzlich Sandros Hand. Die Kamera befindet sich dabei selbst auf dem Fahrgerät bei den beiden Männern und macht die Intimität der Situation auf intensive Weise erfahrbar. Während der ältere sich dem jüngeren in einer beschützenden väterlichen Zärtlichkeit zuwendet, treibt dies den anderen in einen ekstatischen Zustand von Angst-Lust, die sich mit der Achterbahn koppelt. Kaum ausgestiegen, rennt Maicon davon, ohne Sandro eines Blickes gewürdigt zu haben.

Explizite Hardcore-Szenen

Immer tiefer zieht es den bärigen Mann in der Folge in die eigenen Fetischfantasien, die der Film als eine ausufernde szenische Reihe mit expliziten Hardcore-Passagen auch visuell ausspielt. Während die Handlung immer weiter in den Hintergrund tritt, öffnen sich die Bilder Sandros Begehren, in denen zunehmend auch Eifersucht und Destruktivität eine Rolle spielen. In einem surreal anmutenden Sexclub tritt zwischen Neonlicht und Beton seine Angst vor der eigenen Hingabe auch bildlich auf die Bühne.

Daniel Nolasco geht in seiner hochstilisierten Inszenierung durch die Verknüpfung künstlerischen Anspruchs mit pornografischen Darstellungsformen sehr weit und fordert ein Publikum, das mit der Szene nicht vertraut ist, extrem heraus. Gelegentlich verstellt sich der Film dabei auch einem vertieften Einblick in Sandros Psyche, da er die Konflikte zu sehr im manifest Sexuellen thematisiert und Dialoge oder Erinnerungen eine untergeordnete Rolle spielen.

In einer dieser eher seltenen Szenen erzählt der nackte Sandro bei einem Treffen im Wald im Auto Ricardo von seiner Angst vor Spinnen, die ihn seit seiner Kindheit plagt. Ein Lehrer schlug ihm damals vor, eine Konfrontationstherapie zu machen und sich den bedrohlichen Reizen gezielt auszusetzen. Im Gespräch stellt sich aber auch heraus, dass Sandro wie viele andere Jungen ein sexuelles Verhältnis mit diesem Lehrer hatte, der schließlich von den Dorfbewohnern erstochen wurde. Ohne das Gesagte zu bewerten, gelingt es dem Film hier, Sandros Konflikte aufzuzeigen, ohne ihn unnötig zu psychologisieren. Das hell erleuchtete rote Auto Ricardos, das Sandro in diesem Moment Halt im dunklen Wald gibt, spricht eine eigene visuelle Sprache.

Ein Raum für Begierden & Ängste

Besonders gelungen ist dagegen durchweg das Spiel zwischen dem äußeren Klima und der Haut als erregbarer, aber auch verletzlicher und durchlässiger Körpergrenze. Immer wieder scheuert sich Sandro seine Lippen auf. Der trockene Sand, auf den sein Gesicht beim Sex gepresst wird, gräbt sich in die Hautoberfläche, die er einmal selbst als so trocken wie Stahlwolle beschreibt. Die mit der erotischen Hingabe verbundene Feuchtigkeit und Geschmeidigkeit macht ihm ebenso Angst wie der unstete Treibsand am Grunde des dunklen Araguaia-Flusses. Seine Hinwendung zum Leder als toter, gegerbter Haut verspricht ein gefahrloses Genießen, doch im Fetischismus taucht die eigene Gewalterfahrung als Konflikt erneut auf.

„I’ve got a strange desire, boy, such a strange desire“, hört man Camila Cornelsen während der Achterbahnszene mit zerbrechlicher Stimme singen. „Vento Seco“ schafft einen filmischen Raum, in dem die tabulose Erforschung dieser Begehren ebenso Platz findet wie die Ängste vor ihnen.

Kommentar verfassen

Kommentieren