Dokumentarfilm | Deutschland 2017 | 97 Minuten

Regie: Lukasz Lakomy

Mehrere Monate lang erkundet der Dokumentarfilm im Frühjahr 2015 die ostukrainische Bergbaustadt Dobropillja, die vor den kriegerischen Auseinandersetzungen als „Perle des Donbass“ galt, und verknüpft eine Vielzahl von Erzählfäden zu einer sorgfältigen Studie über die Folgen des Krieges. Die ruhige Kamera lässt den Menschen in langen, tableauartigen Einstellungen Raum und Zeit, wobei sich ein surrealer Schleier über die Bilder legt, der den Erkundigungen eine gespenstisch-surreale Note verleiht. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Color Of May
Regie
Lukasz Lakomy · Veronika Glasunowa
Buch
Veronika Glasunowa · Lukasz Lakomy
Kamera
Caroline Guimbal
Musik
Moritz Brückner
Schnitt
Yana Höhnerbach
Länge
97 Minuten
Kinostart
17.03.2022
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Dokumentarische Langzeitstudie über die ostukrainische Stadt Dobropillja und ihre Bewohner im Frühjahr 2015, die vor Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen als „Perle des Donbass“ galt.

Diskussion

Als Veronika Glasunowa und Lukasz Lakomy im Januar 2015 die Dreharbeiten über das Leben und den Alltag der in der Ostukraine liegenden Bergbaustadt Dobropillja aufnahmen, duckte sich die Bevölkerung unter dem Schrecken, den die zeitweise Besetzung durch Separatisten einige Woche davor verursacht hatte. Auf diese Weise erzählt der Dokumentarfilm, der vom Nachhall der Sowjetzeit gut 25 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR handeln sollte, auch vom Leben am Rande einer Kriegszone.

Die wechselvolle Geschichte einer Stadt

Eigentlich erhoffen sie alle nur eines: Frieden. Eine Normalität und einen Alltag wie vor der Maidan-Revolution und dem Einmarsch russischer Soldaten im Frühjahr 2014. Einige von ihnen, die schon etwas älter sind, wünschen sich sogar in die Zeit vor 1991 zurück, als die Ukraine noch nicht unabhängig und Dobropillja die „Perle von Donbass“ war. Denn damals sorgte der sowjetische Staat dafür, dass man ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit und zu Essen hatte. Die Kinder gingen zur Schule, und man konnte in die Ferien fahren. Doch dann kam die Wende. Die UdSSR zerfiel. Man schuftete plötzlich viele Stunden, doch die 200 Rubel, die man dafür erhielt, reichten nicht einmal für ein Fahrrad, um zur Arbeit zu fahren.

Wäre es den Menschen damals besser gegangen, sagt der Taxifahrer Frank Makomba, wäre die Unzufriedenheit, die den Maidan auslöste, vielleicht gar nie entstanden. Makomba darf solches erzählen. Denn er, der aus Tansania stammt, als Austauschstudent in der Ukraine landete und der Liebe wegen hier hängengeblieben ist, verfügt über den Blick von außen. In „Langes Echo“ ist er zugleich Erzähler und Beobachter. Sein Auto, mit dem er Tag und Nacht durch die Stadt kreuzt, funktioniert als dramaturgisches Webschiff, das die vielen Erzählfäden zusammenfügt. Damit erinnert „Langes Echo“ fast an „Taxi Driver“ von Martin Scorsese.

„Wir stammen von Kosaken ab“

Die zweite Protagonistin, die die Geschichte der heute etwa 30 000 Bewohner zählenden Stadt in groben Zügen darlegt, ist Tatjana Aleksandrovna. Sie führt durchs lokalhistorische Museum. Erläutert, wie ein Großgrundbesitzer in Dobropillja um 1900 eine erste Zeche baute. Wie anfänglich unter misslichen Umständen Bergbau betrieben wurde, und wie die im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht besetzte Stadt in den 1950er-Jahren wie Phoenix aus der Asche auferstand. Goldene Zeiten waren das. Die Bevölkerung von Dobropillja war – und ist es heute noch immer ein bisschen – stolz auf ihre Stadt, in der sich die Völker seit jeher mischen. „Wir stammen von Kosaken ab und noch ist die Ukraine nicht gestorben“, heißt es in der Nationalhymne, die sich an einem Gedicht von Pawlo Tschubynskyjs (1839-1884) anlehnt.

In „Langes Echo“ wird viel gesungen. Wenn man zusammensitzt, oder in Musikproben. Bei Gedenkfeiern und Jahrestagen, wie dem Tag des Friedens am 9. Mai. Kirchlich-wehmütig klingt der Chorgesang, der die Trauer einer Mutter am Sarg ihres im Einsatz getöteten Sohns unterlegt. Er hätte, als seine Oma ihm früher Geschichten aus dem Krieg erzählte, sich nie träumen lassen, einst selbst der Frau eines Freundes mitteilen zu müssen, dass ihr Mann gefallen ist, sagt der Grabredner.

Nur noch Frauen, Kinder und Senioren

Auch der Filmtitel „Langes Echo“ stammt aus einem Lied. Tatjana Aleksandrovna singt es zur Ziehharmonika in einer langen Einstellung auf offenem Feld. Sie kennt den Liedtext genauso auswendig wie die Jahreszahlen, Namen, Ereignisse, die sie bei ihrer Führung herunterbetet. Ihre Erklärungen sind nüchtern. Lebendiger wird ihre Darbietung da, wenn sie von ihrem Single-Club erzählt und stolz darauf verweist, 28 Paare zusammengebracht zu haben. Doch seit Kriegsausbruch leben in Dobropillja nur noch Frauen, Kinder und Senioren. Diesen, heißt es, sei das Lachen vergangen. Nicht nur, weil die Männer fehlen, sondern auch, weil diese möglicherweise unverhofft mit einer Waffe in der Hand ihren Verwandten gegenüberstehen.

Zu den weiteren Personen des Films gehören die Musiker der Death-Metal-Band „Rage of Madness“, der ehemalige Zechenarbeiter Nikolaj Nikolajevitsch sowie Elena Aleksejevna, die einen Massage-Salon betreibt. Die Musiker treffen sich täglich zur Probe und träumen davon, von ihrer Musik leben zu können. Nikolaj Nikolajevitsch betreibt ein Naturparadies und versucht, seinen aus Pfau und Frettchen bestehenden Tierbestand zu einem Mini-Zoo zu erweitern; doch schon die Einfuhr eines Chamäleons aus dem 70 Kilometer entfernten Donezk ist derzeit ein waghalsiges Unterfangen. Elena Aleksejevna, die ihre Kunden mit vibrierenden Sesseln und anderen Gerätschaften behandelt, möchte dereinst ein Gesundheitszentrum aufbauen.

Die Kamera lässt den Menschen Raum und Zeit

Die Filmemacher haben über Monate gedreht. Die Kamera von Caroline Guimbal ist diskret. Sie lässt den Menschen Raum und Zeit. „Langes Echo“ arbeitet mit immer wieder mit langen Einstellungen. Die Bilder erhalten dadurch etwas Tableau-artiges; auch liegt nicht selten ein Schleier über ihnen, der sie farblich entsättigt erscheinen lässt. Dieser Schleier sei typisch für eine Bergbaustadt, steht im Presseheft, er stamme vom Staub in der Luft. De facto trägt er zur surrealen Stimmung bei, die den Film prägt und Assoziationen ans Werk des Schweden Roy Andersson weckt.

Doch wo Andersson inszeniert, beschränken sich Glasunowa und Lakomy aufs Beobachten. Die Abgründe, die sich dabei unverhofft öffnen, lassen eine lähmende Angst zutage treten und strafen die vermeintliche Normalität, die der Film zeigt, Lüge; etwa wenn die Musiker beim Bier nach der Probe abrupt das Thema wechseln, nur um miteinander nicht in eine Auseinandersetzung zu geraten.

Der lange Nachhall des sowjetischen Denkens

Es sei vor allem die eigenartige Atmosphäre gewesen, die über Dobropillja liegt, die sie bewogen habe, hier einen Film zu drehen, erzählen Glasunowa und Lakomy. Einen Film über den langen Nachhall des sowjetischen Denkens, das die Menschen, die in der UdSSR lebten, auch Jahrzehnte nach deren Zerfall noch prägt. Tatsächlich ist fast der ganze Film in Dobropillja gedreht. Nur einmal bricht er auf, um Nikolaj Nikolajevitsch ins Umland zu begleiten. Die Fahrt führt kilometerlang durch verwildernde Kulturlandschaften, vorbei an kriegsverwüsteten Höfen und Weilern. Dobropillja liegt 70 Kilometer von der Frontlinie entfernt; die Reichweite der Raketen beträgt allerdings 90 Kilometer. Als es jüngst bollerte, habe er seine Frau aus dem Bett gezerrt, weg von den Außenwänden des Hauses, sagt einer der Musiker.

Heute, versichern die Filmemacher, sei in Dobropillja eine Art Normalität eingekehrt. Wer wissen will, wie die Angst vor dem Krieg aussieht, dem kann man diese kleine, aber sehr sorgfältig gefertigte Momentaufnahme nur ans Herzen legen.

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