Experiment Sozialismus - Rückkehr nach Kuba

Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 83 Minuten

Regie: Jana Kaesdorf

Dokumentarisches Road Movie, das einen fiktiven Exilkubaner in seine Heimat zurückkehren lässt, um Revolutionsveteranen, junge Menschen, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Journalisten, Fischer und Bauern nach dem Status quo des karibischen Sozialismus und den wirtschaftlichen und politischen Reformen zu befragen. Der Film spürt der Gegenwart und einer möglichen Zukunft Kubas nach, rekapituliert die wechselhafte Geschichte der Antillen und fängt die seltsame Zeitlosigkeit ein, die hier seit jeher Aufbruch und Stillstand, Revolution und Rückschritt zusammenbindet. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Jana Käsdorf Prod.
Regie
Jana Kaesdorf
Buch
Jana Kaesdorf
Kamera
Jana Kaesdorf
Musik
Martin Perna · Waï Afrobeat · Albino! · The Souljazz Orchestra
Schnitt
Jana Kaesdorf
Länge
83 Minuten
Kinostart
27.08.2020
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarisches Road Movie, das den Status Quo des kubanischen Sozialismus eruiert und in vielen Gesprächen die Resultate der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Reformen bilanziert.

Diskussion

Ein junger Mann kehrt 2019 nach Kuba zurück. Arsenio Morella hat seine Kindheit in der Sierra Maestra verbracht, dem wilden Bergland im Südwesten der Insel. Das war einst das Kernland der Revolution, von dem aus die Guerilla um Fidel Castro den Kampf gegen das Batista-Regime begann. In einer aus rohen Brettern gezimmerten Hütte findet er an den Wänden Schwarz-Weiß-Fotos, die ihn an seine Kindheit in dem verschlafenen Ort erinnern, wo es wenig gab. Schon als kleiner Junge war er äußert geschickt darin, manches von dem, was der tropische Sozialismus nicht bereitstellen konnte, auf anderen Kanälen für seine Familie zu besorgen.

Anfang der 1990er-Jahre floh er wie viele andere mit seiner Familie über das Meer nach Miami. Nur einmal sieht man ihn noch als Schwarz-Weiß-Bild auf der Bretterwand. Heute sagt er: „Die Täuschung ist eine Kunst, die der Kapitalismus mit dem Sozialismus teilt. Wächst du in der kapitalistischen Welt auf, wirst du von den Unternehmen manipuliert. Lebst du in einem Land wie Kuba, manipuliert dich die Partei. Beide Ordnungen existieren nicht in reiner Form, sie sind Zwillinge; jede trägt nur einen anderen Hut. Wenn du überleben willst, musst du bereit sein zu tricksen. Das ist die Realität. Anders geht es nicht“.

Road Movie durch ein Land im Umbruch

Arsenio ist Prototyp einer Generation junger Kubaner, die nach dem Zusammenbruch des Sozialismus erwachsen wurden, auf der Insel oder im Exil. Arsenio ist aber auch das Alter Ego der Filmemacherin Jana Kaesdorf, involviert und gleichzeitig fremd genug, um noch Neugierde zu entwickeln. Arsenio (Tom Vogt) ist die Stimme der Kamera, so eindringlich wie einst der Off-Erzähler in den Essayfilmen von Chris Marker, mit vielen Reflexionen über Menschen, Landschaften und das „Experiment Sozialismus“.

Arsenio und Jana Kaesdorf reisen durch ein Land im Umbruch. Bereits 2011 hatte Raul Castro politische wie wirtschaftliche Reformen eingeläutet. Damit sollten die Errungenschaften des Sozialismus gerettet, der Staatsapparat verschlankt und die private Initiative gefördert werden. Die sogenannten „linamientos“, Leitlinien, wollten das sozialistische Wirtschaftsmodell aktualisieren und das Land aus der anhaltenden Krise führen. Privatisierung heißt seitdem die Zauberformel, was eine Art Umwandlung der Beamten in Solo-Selbstständige impliziert.

„Experiment Sozialismus“ ist ein Road Movie über die sozialistische Zuckerinsel, das Gegenwart, Vergangenheit und der möglichen Zukunft des tropischen Sozialismus nachspürt. Wobei die Fahrt durch verfallene Straßenzüge in Havanna und immer wieder an den Ruinen der sozialistischen Schwerindustrie entlangführt: von den Zuckerfabriken bis hin zum gescheiterten Großprojekt eines kubanisch-sowjetischen Atomreaktors nahe Juraguá bei Cienfuegos.

Bilder des bewegten Stillstands

Zwischen den überall präsenten Parolen der Revolution skizziert der Film ein Wirtschafts- und Versorgungssystem, das nicht funktionieren kann und doch irgendwie weiterläuft. So müssen etwa die Fischer fast alles an den Staat abführen, ihre Ausrüstung aber selbst besorgen. Den Überschuss des Fischfangs dürfen sie zwar behalten, jedoch nicht verkaufen. Der Fischer Angel ist deshalb der kritischste unter Arsenios Gesprächspartnern. Das Land habe sich nicht so entwickelt, wie es die alten Freiheitskämpfer im Sinn gehabt hatten.

Der 82-jährige Manolo vom „Komitee zur Verteidigung der Revolution“, jener Organisation, die seit dem Sieg 1960 die Nachbarschaft auf Linie bringen soll, sieht immer noch viel Gutes; gleiches gilt auch für die Redakteurin der Parteizeitung „Granma“. Ein Historiker und ein Wirtschaftswissenschaftler ergänzen das facettenreiche Bild des bewegten Stillstands. Die jungen Leute hingegen verweisen schüchtern und fast brav auf ihren Wunsch nach einem besseren Leben – und auf die Unausweichlichkeit der Dinge.

In einem historischen Exkurs rekapituliert der Film die Geschichte der Antillen zwischen Zuckeranbau, Mafia und Revolution über den spanischen Kolonialismus und die US-amerikanische Vorherrschaft bis zur Revolution von Fidel Castro und der Annäherung an die Sowjetunion. Plus die Gegenwart nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers in Osteuropa. In beeindruckenden Bildern, die wenig mit folkloristischen Kuba-Klischees zu tun haben, fängt Jana Kaesdorf die seltsame Zeitlosigkeit Kubas ein: Scheinbare Bewegungen in gesellschaftlichen Prozessen, Diskussionen über das Ende des tropischen Sozialismus, die so oder ähnlich schon seit 1996 geführt werden, blühende Landschaften inmitten ständiger Sturmtiefs.

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