La vie scolaire - Schulalltag

Coming-of-Age-Film | Frankreich 2019 | 111 Minuten

Regie: Mehdi Idir

Eine engagierte junge Pädagogin tritt eine Stelle an einer berüchtigten Schule in Saint-Denis nahe Paris an. Tatsächlich stößt sie auf allerlei Schwierigkeiten, ist aber auch beeindruckt von der Lebensfreude und Energie, die viele der Schüler trotz schlechter Zukunftsperspektiven ausstrahlen. Vor allem ein besonders aufsässiger Schüler wird zur Herausforderung für sie. Eine teilweise mit Laiendarstellern aus Saint-Denis von zwei dort aufgewachsenen Regisseuren inszenierte Tragikomödie um Probleme und Chancen schulischer Bildung in einem „prekären“ sozialen Umfeld, die mitunter Züge einer dokumentarisch anmutenden Milieustudie trägt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LA VIE SCOLAIRE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Mandarin Films/Kallouche Cinéma/Gaumont
Regie
Mehdi Idir · Grand Corps Malade
Buch
Mehdi Idir · Grand Corps Malade
Kamera
Antoine Monod
Musik
Angelo Foley
Schnitt
Laure Gardette
Darsteller
Zita Hanrot (Samia Zibra) · Liam Pierron (Yanis Bensaadi) · Soufiane Guerrab (Messaoud) · Moussa Mansaly (Moussa) · Alban Ivanov (Dylan)
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Coming-of-Age-Film | Jugendfilm | Tragikomödie
Externe Links
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Diskussion

„Ruhe bitte!“ Leicht genervt verschafft sich die Dame am Pult Gehör. Die Kamera filmt sie aus leichter Untersicht frontal von vorne – aus der typischen Schülerperspektive. Nur widerwillig ebbt der Stimmenwirrwarr ab. Die Sommerferien sind nun endgültig vorbei. Auf den Wiedererkennungseffekt dieses universellen ersten Bildes vom Schuljahresbeginn folgt das erste Augenzwinkern des Films: Die Gegenschuss-Aufnahme des vermeintlichen Klassenraums zeigt ein Lehrerzimmer, gefüllt mit dem lebhaft quasselnden Kollegium.

Dieses Spiel mit den Erwartungen mag zwar zunächst nicht besonders raffiniert daherkommen, doch schlägt dieser kurze Schuss-Gegenschuss-Auftakt sogleich den basisdemokratischen Stützpfeiler der Mise-en-Scène ein: „Schulalltag“ inszeniert seine Protagonistinnen und Protagonisten gleichwertig, Schüler wie Pädagogen, als vielschichtige Menschen mit Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen, deren Geschichten vom Film ausgewogen verflochten werden. Was dabei allerdings umso deutlicher zu Tage tritt, sind die Benachteiligungen und Privilegien, die eine Gleichheit der Chancen behindern, gar verhindern.

Schule als Brennpunkt der Banlieue-Probleme

„Schulalltag“, nach „Lieber leben“ (2017) der neue Spielfilm des französischen Regisseurs Mehdi Idir und des Musikers, Poetry-Slammers und Autors Fabien Mersaud alias Grand Corps Malade, ist in Seine-Saint-Denis angesiedelt – jenem Département im Norden von Paris, das man aus der Presse wie aus dem Kino wegen seiner hohen Wohntürme, sozialer Abgehängtheit und den daraus resultierenden Problemen kennt. Dort in den Schulen zu arbeiten, gilt als besonders herausfordernd. Dort aufzuwachsen sowieso.

Mit den Pariser Vorstädten, insbesondere in Kombination mit dem Schauplatz Schule, haben sich von Laurent Cantet mit „Die Klasse“ (2008), Marie-Castille Mention-Schaar mit „Die Schüler der Madame Anne“ (2014) oder Rachid Hami mit „La Mélodie – Der Klang von Paris“ (2017) bereits einige Filmeschaffende auf die eine oder andere Art und Weise auseinandergesetzt. Auch in anderen Werken des sogenannten „cinéma de banlieue“ spielt Schule häufig irgendwie eine Rolle – mal als Treffpunkt, Anlaufstelle oder Ort der Hoffnung, mal als Ort des Scheiterns, der Gewalt oder als abwesende Hintergrundfolie für die Schwänzenden, so beispielweise zuletzt im gewaltigen Debütfilm von Ladj Ly, „Die Wütenden – Les Misérables“ (2019).

„Schulalltag“ – auf Französisch ähnlich nüchtern mit „La vie scolaire“, das Schulleben, betitelt – ergänzt diese Sammlung um einen vergleichsweise unaufgeregten Film: Samia (Zita Hanrot) zieht aus der südfranzösischen Provinz nach Saint-Denis und übernimmt dort die Leitung des sozialpädagogischen Teams an einem Collège – die Bezeichnung für die Gesamtschule von Klasse 5 bis 9, die alle französischen Jugendlichen besuchen, bevor das System ab Klasse 10 mehrgliedrig wird. Überwiegend aus ihrer Perspektive, aber auch aus Sicht von Schülern und Kollegen, erzählt der Film von einem Schuljahr mit allen möglichen Höhen, Tiefen und Alltagsszenen.

Recherchen am Drehort & die „credibility“ jugendlicher Laiendarsteller

Pädagogen, die superheldengleich die soziale oder persönliche Benachteiligung ihrer Schützlinge zerschmettern, um diese auf den rechten Pfad der Leistung und Bildung zu führen wie etwa „Madame Anne“, sucht man hier vergeblich. Ebenso Schüler, die sich aus dem Nichts plötzlich zu Höchstleistungen aufrappeln. Kompiliert aus eigenen Erinnerungen, aber reaktualisiert durch Recherchen am Drehort und die „credibility“ ihrer in Saint-Denis gecasteten jugendlichen Laiendarsteller zeigen Mehdi Idir und Grand Corps Malade vielmehr ein Spektrum authentisch wirkender Figuren in banalen bis lebenswegentscheidenden Situationen. Alles bleibt stets im Bereich des Möglichen, getrübt durch außerschulische Realitäten – überforderte Eltern, fehlende Väter, das schnelle Geld der Straße, der Unfalltod des besten Freundes, die Perspektivlosigkeit der Peripherie.

Während der Geschichtslehrer am Rand des Nervenzusammenbruchs ständig von Schülern angegriffen wird und selbst angreift, verschafft sich der Mathelehrer mit klarer Linie und ähnlich beißend-liebevollem Humor wie seine Schüler Gehör. In der Klasse von Yanis, in der die Schule alle Achtklässler zusammenfasst, die kein Interesse an Wahlfächern (französisch: „options“) wie etwa Latein haben, sitzen die „Problemschüler“. SOP, die „sans options“, werden sie genannt – und tatsächlich haben sie im doppelten Wortbedeutungssinn nicht immer eine Wahl.

Vom Kampf gegen die Optionslosigkeit

Obwohl Yanis besser könnte, wenn er wollte, weiß er nicht warum und wofür er lernen soll. Sein bester Freund, ein Schulabbrecher, dealt inzwischen und träumt vom eigenen Restaurant mit Yanis. Samia, die Sozialpädagogin, will Yanis helfen und versucht ihn für eine Ausbildung im Filmbereich zu begeistern. Was bei einem anderen Schüler klappt, den Samia auf eine Kompositionsklasse hinweist und der es dann im Musikunterricht zu einer Sternstunde bringt, schlägt bei Yanis nicht an. Warum sollte ausgerechnet er, ein unterdurchschnittlicher Schüler aus der Banlieue, einen der wenigen Ausbildungsplätze bekommen? Gesellschaftliche Stigmatisierung erstickt das Aufbäumen dagegen im Keim.  

Wie in Lieber leben“, in dem es am Beispiel der Rehabilitation eines Querschnittsgelähmten mit humorvollem Tiefgang um das Spannungsfeld von menschlicher Gleichheit und sozialer Ungleichheit geht, spiegelt sich im Mikrokosmos „Schulalltag“ ebenfalls die große Gesellschaft im Kleinen wider. Die Handlungsstränge rund um Samias Rolle als Sozialpädagogin und Yanis’ hadernde Selbstsuche erlauben es, das Leben im Viertel und seine Gegebenheiten innerhalb und außerhalb des Unterrichts mit einer Vielzahl unterschiedlicher Szenen, Schauplätze und Figuren auf den Punkt zu bringen.

Der Kontext ist stärker als die Schule

Dies geschieht mit großer Liebe zum Detail – sei es bei den vor linguistischer Kreativität strotzenden jugendsprachlichen Dialogen, den herben Witzen des Aufsichtspersonals oder eben schulischen Alltagsszenen über Zuspätkommende mit den fantasievollsten Ausreden, urkomischen weinerlichen Wutausbrüchen um einen Radiergummi oder Yanis’ „Rettung“ durch Samia, die nur halbgar ausfallen kann, weil es die Umstände nicht anders erlauben.

Dass der Kontext stärker als die Schule sei, ist nicht nur ein Satz, den der Mathelehrer einwirft, als Samia drauf und dran ist, in die Provinz zurückzukehren. Es sei dennoch ein Ort, an dem es sich zu bleiben lohnt. Es ist dieser geerdete Optimismus des Schulpersonals, eine Mischung aus humoriger Zurückgelehntheit und ernsthafter Betrachtung von Individuen und System, die auch den Film und seine Machart auszeichnet.

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