State Funeral

Dokumentarfilm | Litauen/Niederlande 2019 | 129 Minuten

Regie: Sergei Loznitsa

Nach dem Tod von Josef Stalin am 5. März 1953 richtete das Sowjet-Regime ein viertägiges Staatsbegräbnis aus, das zugleich eine gigantische Propaganda-Show war, bei der aufgezeichnet wurde, wie Millionen von Russen Abschied von dem Diktator nahmen. Der Dokumentarfilmer Sergei Loznitsa hat das reichhaltig vorhandene Archivmaterial der Beerdigungsfeierlichkeiten arrangiert und bearbeitet, womit er die Bilder der Machtpräsentation nahe an die Gegenwart heranrückt. Indem er das Pathos der inszenierten Trauer schier endlos reproduziert, rührt er ans Wesen von Massenreaktionen, die er als Phänomen sichtbar, wenn auch nicht begreifbar macht. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
STATE FUNERAL | GOSUDARSTWENNIJE POCHORONI
Produktionsland
Litauen/Niederlande
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Atoms & Void/Studio Uljana Kim/Nutprdukce
Regie
Sergei Loznitsa
Buch
Sergei Loznitsa
Schnitt
Danielius Kokanauskis
Länge
129 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm | Filmessay
Externe Links
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Aus sowjetischem Archivmaterial erstellte dokumentarische Annäherung an die staatlich verordnete Trauer nach dem Tod von Josef Stalin im Jahr 1953, die an das Wesen von Massenhysterie rührt.

Diskussion

In „State Funeral“ entblößt Sergei Loznitsa Geschichte als Melodram. Weinende Gesichter unter Schock, Geschluchze, sich durch Reihen niedergelegter Blumen schiebende Massen am Ende einer Idee, mitten im Kollaps und doch ganz nah. Der aus erstaunlichem (oder erstaunlich bearbeitetem) Archivmaterial bestehende Film folgt der staatlichen Trauer rund um das Ableben von Josef Stalin im März 1953. Von offiziellen Lautsprecherdurchsagen, dem Lesen in den Zeitungen über die Eindrücke von Menschen, Politikern und nächsten Verwandten am offenen Sarg des geschiedenen Diktators hin zu Trauerfeiern in Fabriken bis zur Niederlegung des Sargs am Roten Platz zeigt der Film die Beerdigung, die gleichermaßen eine Zustandsbeschreibung ist und, man kann es aus heutiger Sicht nicht anders formulieren, eine Farce.

Loznitsa richtet seinen Blick vornehmlich auf das, was er nicht versteht. Das gilt für seine fiktionalen und dokumentarischen Arbeiten gleichermaßen. Dort, wo etwas besonders monströs, absurd, unerklärlich erscheint, interessieren den Filmemacher Bilder. In der Geschichte der Sowjetunion und in der Gegenwart Russlands gibt es vieles, was man nicht verstehen kann. Nach The Event und Der Prozessarbeitet Loznitsa erneut wegweisende geschichtliche Ereignisse der sowjetischen Geschichte anhand von Found Footage auf; in diesem Fall kommt das Material aus dem staatlichen Dokumentar- und Fotografiearchiv in Krasnogorsk, das Meiste aus dem Propagandafilm Velykoye proshanye.

Ein beinahe unheimlicher Vergegenwärtigungseffekt

Allerdings begnügt sich Loznitsa nicht mit der bloßen Wiedergabe des gefundenen Materials. Subtile Schnitte, eingespielte Musik, Aufnahmen von Reden und ein hochkomplexes Sounddesign seines langjährigen Mitarbeiters Vladimir Golovnitski bewirken einen beinahe unheimlichen Vergegenwärtigungseffekt. Die Treppen in der großen Halle knarzen, die Motoren der gelandeten Flugzeuge heulen auf, und da manche der erhaltenen Bilder dieser inszenierten Staatstrauer in Farbe gedreht wurden und von Loznitsa digital manipuliert werden, entsteht der Eindruck, dass diese Bilder auch gestern hätten gedreht werden können. Natürlich glaubt man nie wirklich daran, aber zumindest wird man sich der Gegenwart stalinistischer Geister bewusst.

2018 kursierte im Netz ein Video des staatlichen russischen Fernsehens, das Wladimir Putin auf dem Weg zu seiner Amtseinführung durch schier endlose leere Korridore begleitete. Wie die redundanten weinenden Gesichter der Bevölkerung oder die von Kränen und Menschen getragenen, gerahmten Abbilder von Stalin entsteht in solchen Aufnahmen zunächst ein Bild: das der Macht. Inszenierung ist dafür ein entscheidendes Kriterium und im Fall von Stalin wird das auch deshalb besonders deutlich, weil die kultische und gesetzlich vorgegebene Verehrung seiner Person im krassen Gegensatz zu seinen Verbrechen und zu den Ereignissen in der Sowjetunion nur wenige Monate später steht. Nicht zuletzt deshalb wirken die Bilder wie aus einem misslungenen Melodram der 1950er-Jahre. Alles wird herausgeputzt, um endlich weinen zu dürfen.

Scheinbar endlose Wiederholungen

Doch Loznitsa macht es sich und den Betrachtern dieser Bilder nicht einfach. Das liegt zum einen daran, dass er den Film in sich scheinbar endlos wiederholenden Bewegungen vorwärtstreibt, bis man beinahe im Pathos erstickt. Die etwas anstrengende Methode ist jedoch mit Bedacht gewählt, denn je länger man dem Immergleichen zusieht, je öfter man die nackte Trauer auf den Gesichtern der Menschen erblickt, desto mehr Fragen stellt man an das Material: Ist diese Trauer echt? Wie kann ein einzelner Mensch eine solche Massenreaktion bewirken? Ist es wirklich mit der Erzählung von Stalin als bösem Diktator getan? Loznitsa führt gewissermaßen einen sokratischen Dialog mit sich selbst. Allerdings ohne Lösungsansätze. Stattdessen erinnert er daran, dass die Dinge komplexer sind, die Zusammenhänge tiefer gehen und die Geschichte noch perverser ist, als man sich das auszudenken wagt.

Denn obwohl Loznitsa das Material manipuliert, erklärt er nichts. Man lernt mit ihm zu schauen. „State Funeral“ ist kein Detektivfilm, bei dem man aus dem Archiv eine Wahrheit fischt. Stattdessen wird der Zuseher zum Detektiv: Man muss sich positionieren, denken, sehen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, und es verwundert nicht, dass Loznitsa mit diesem offenen Ansatz von jenen, die dort letztlich nur Propagandamaterial erkennen, das ästhetisch ansprechend aktualisiert wurde, als Stalin-Romantiker bezeichnet wird.

Geschichten der Masse

Dabei sollte allein der zeitliche Abstand zwischen der Betrachtung heute und dem Leben auf den Straßen der Sowjetunion damals etwas bewirken. Loznitsa interessiert sich für Aspekte der Gesellschaft, die im Kino oft ignoriert werden, weil sie Klarheiten und Wahrheiten verdecken. Er zieht Geschichten der Masse jenen von Individuen vor, er begreift Geschichte nicht, sondern versucht etwas von ihr sichtbar zu machen. Und er weiß, dass er nichts weiß. Wenn man das akzeptiert, hat man in „State Funeral“ tatsächlich etwas gesehen

"State Funeral" wird am 6.4.2020 um 23.35 bei arte ausgestrahlt. Außerdem steht der Film bis 21.3.2023 in der arte Mediathek zur Verfügung.

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