Dem Leben entgegen - Kindertransporte nach Schweden

Dokumentarfilm | Schweden/Österreich 2019 | 94 Minuten

Regie: Gülseren Sengezer

Interviewfilm mit vier ehemaligen jüdischen Flüchtlingskindern, die nach 1938 ohne Eltern und Verwandte ins schwedische Exil geschickt wurden. Die Interviewten reflektieren über Angst und Einsamkeit in der Fremde und die emotionalen Erschütterungen, die mit der Trennung von der Familie verbunden waren. Parallel dazu eröffnen lange Kamerafahrten durch schwedische Landschaften und ein kammermusikalischer Klangteppich einen vielfältigen emotionalen Raum für Reflexionen über diese Erlebnisse und Erfahrungen, Enttäuschungen und Traumata. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
KINDERTRANSPORTER TILL SVERIGE | KINDERTRANSPORTS TO SWEDEN
Produktionsland
Schweden/Österreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
SoBe-Film
Regie
Gülseren Sengezer
Buch
Gülseren Sengezer
Kamera
Mathias Toivonen
Musik
Rickard Age
Schnitt
Mathias Toivonen
Länge
94 Minuten
Kinostart
03.03.2022
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Heimkino

Verleih DVD
GMfilms (16:9, 1.78:1, DD5.1 swe./dt.)
DVD kaufen

Drei Frauen und ein Mann, die als Kinder Ende der 1930er-Jahren mit sogenannten „Kindertransporten“ ohne Begleitung nach Schweden verschickt wurden, erinnern sich an ihre schwierigen Erfahrungen und Traumata, die ihr Leben geprägt haben.

Diskussion

Von Ende des Jahres 1938 bis 1940 wurden rund 20 500 jüdische Minderjährige aus Deutschland, dem besetzten Österreich und der Tschechoslowakei mit sogenannten „Kindertransporten“ ins sichere Ausland gebracht. Etwa die Hälfte von ihnen fand eine neue Heimat in Großbritannien. Das neutrale Schweden dagegen nahm nur 500 Mädchen und Jungen auf – und beharrte auch in den folgenden Jahren darauf, dass diese Zahl nicht überschritten wurde. Angesichts der Tatsache, dass 1942 rund 70 000 finnische Kinder in Schweden Unterschlupf vor dem Krieg fanden, die Kapazität für jüdische Flüchtlinge also bewusst sehr niedrig gehalten wurde, kann durchaus geschlussfolgert werden, dass der in weiten Teilen Europas verbreitete Antisemitismus auch in Schweden verwurzelt war und politische Konsequenten nach sich zog. Dazu gehört auch, dass der schwedische Staat, der bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein enge wirtschaftliche Beziehungen zu Deutschland unterhielt, für die Kindertransporte keine Mittel zur Verfügung stellte; es war Privatpersonen und Organisationen vorbehalten, diesen humanitären Akt zu unterstützen.

Mit geschlossenen Augen

Vier jener fünfhundert Kinder, mittlerweile um die neunzig Jahre alt, erinnern sich in dem Film „Dem Leben entgegen“ von Gülseren Şengezer an ihr Leben im Exil, die Trennung von Eltern und Geschwistern, die Angst und Einsamkeit in der Fremde, das emotionale Chaos, das für sie mit der sogenannten „Verschickung“ verbunden war. Zu Beginn und am Ende des Films schließen die drei Frauen und ein Mann auf Bitten der Regisseurin bei ihren Antworten die Augen; sie blicken gleichsam in sich hinein, graben nach verdrängten, oft verstörenden Gedanken und Gefühlen, versuchen die Traumata ihrer Kindheit in Worte zu fassen: die plötzliche Entwurzelung, den Verlust an Sicherheit, die gefühlsmäßigen Strudel auf der Suche nach einer neuen Identität.

Vieles bisher nie Gesagte kommt zur Sprache. Wie aus der Wut, von den Eltern verlassen worden zu sein, die Unfähigkeit entsprang, nach deren Tod um sie zu trauern. Wie das Gefühl übermächtig wurde, die Eltern hätten sie ihrer Kindheit und Jugend beraubt. Wie schwedische Juden sich von den deutschen Kindern fernhielten, aus Angst oder weil sie meinten, etwas Besseres zu sein. Wie die Kinder zur Schwerarbeit auf Bauernhöfen eingesetzt wurden, oder wie sie den Nachbarn vorgestellt wurden: „Und das ist unser kleines Judenkind...“

Die Last des Vergangenen

Die Interviews stellen im Grunde eine letzte Chance dar, authentische Erfahrungsberichte über die Kindertransporte einzuholen, und das zu einem Zeitpunkt im Leben der Befragten, an dem über die Vergangenheit ganz offen gesprochen werden kann. Die Gespräche bieten eine Möglichkeit, sich die Last des Vergangenen zu vergegenwärtigen, sich womöglich sogar ein Stück von ihr zu befreien.

Der Film ist klug strukturiert, in kurze Kapitel wie „Zuhause“, „Heimatlos“, „Ins Unbekannte“, „Die Zurückgebliebenen“, „Bürde“ oder „Katharsis“ gegliedert, denen entsprechende Interviewpassagen zugeordnet sind. Nur sehr selten werden die Interviews von Archivmaterial aus den späten 1930er- oder frühen 1940er-Jahren unterbrochen; selbst diese wenigen Szenen wären verzichtbar gewesen, da die Erinnerungen der Befragten beim Zuhörer eigene Bilder freisetzen.

Als wesentliches Stilelement nutzen die Regisseurin und ihr Kameramann Mathias Toivonen lange Kamerabewegungen durch menschenleere schwedische Landschaften: Fahrten in einen tief verschneiten Wald oder das Schweben über einen zugefrorenen See. Das schafft Raum für Reflexionen, zumal das Tempo der Kamera mit dem Fluss des Erzählten korrespondiert. Aus dem Zusammenspiel von Klavier und Klarinette, Flöte, Altsaxophon und Violine entstand eine leise, melancholische, aber nicht sentimentale Begleitmusik, die bisweilen allerdings zu oft als Klangteppich unterlegt ist. Nicht zuletzt werden auch Zitate aus Briefen von zurückgebliebenen Vätern und Müttern genutzt, die das Erzählte ergänzen, kommentieren und relativieren.

Der Film führt mitten in die Gegenwart

Gülseren Şengezer ist Kurdin, die als sechsjähriges Mädchen mit ihrer Familie nach Deutschland emigrierte. Fragen nach Identität, Entwurzelung und Verlust haben sie Zeit ihres Lebens beschäftigt: Daher rührt ihre Affinität und Empathie für die Schicksale der jüdischen Flüchtlingskinder in Schweden. Man kann den Film durchaus als Parabel sehen: auf das Leid und die Traumata heutiger Flüchtlingskinder. Die Welt ist voll von ihnen. „Dem Leben entgegen“ führt mitten in unsere Gegenwart hinein.

 

Kommentar verfassen

Kommentieren