Drama | Türkei/Bulgarien/Deutschland/Frankreich 2018 | 188 Minuten

Regie: Nuri Bilge Ceylan

Ein junger Türke kehrt nach dem Ende seines Studiums ins Dorf zu seiner Familie zurück und hofft auf finanzielle Unterstützung, um sein erstes Buch veröffentlichen zu können. Allerdings stößt er damit nur auf freundlich verklausulierte Ablehnung. Der episodenhaft strukturierte Film ist um drei zentrale Gespräche gruppiert, die auf vielfache Weise um die Existenz eines Künstlers kreisen, der zwischen Pragmatismus und Kalkül, Arroganz und Überdruss, dem Leiden an der Herkunft und einer ungestillten Sehnsucht laviert. Ein von tiefem Ernst grundiertes, aber zugleich auch heiteres Werk, das eine idyllische Natur als utopischen Kontrast zum menschlichen Treiben in Szene setzt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AHLAT AGACI
Produktionsland
Türkei/Bulgarien/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Zeyno Film/Memento Films/DETAiLFILM/RFF International/Sisters and Brother Mitevski/2006 Produkcija Sarajevo/Film i Vast/Chimney Pot
Regie
Nuri Bilge Ceylan
Buch
Akin Aksu · Ebru Ceylan · Nuri Bilge Ceylan
Kamera
Gökhan Tiryaki
Schnitt
Nuri Bilge Ceylan
Darsteller
Dogu Demirkol (Sinan Karasu) · Murat Cemcir (Idris Karasu) · Bennu Yildirimlar (Asuman Karasu) · Hazar Ergüçlü (Hatice) · Serkan Keskin (Suleyman)
Länge
188 Minuten
Kinostart
18.06.2020
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Ein junger Türke kehrt nach dem Ende seines Studiums ins Dorf zu seiner Familie zurück und hofft auf finanzielle Unterstützung, um sein erstes Buch veröffentlichen zu können.

Diskussion

Nach Jahren der Abwesenheit kehrt ein junger Mann in seinen Heimatort zurück. Er besucht seine Familie, plant seine Zukunft, trifft alte Freunde und Bekannte, eine Ex-Liebe, aber auch den Bürgermeister und einen Verleger, die ihm nützlich sein können. Es ist ein Moment des Innehaltens, der ersten Bilanz und der Orientierung. Zugleich ließe sich dies aber auch als reichlich verspätetes Erwachsenwerden beschreiben.

Mit 188 Minuten ist „The Wild Pear Tree“ der längste Film des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan, aber zugleich auch der leichteste, heiterste. In gleichmäßig-ruhigem Tempo reiht er lange Konversationsszenen aneinander, die eher den Vergleich mit einem Tschechow-Stück nahelegen als mit einem Film von Eric Rohmer. Denn Überschuss oder Überflüssiges gibt es hier so gut wie nie; jedes Gespräch hat ein Thema, alles ist notwendig und von Ernst grundiert, selbst eine geradezu endlose Konversation des Protagonisten mit zwei Imamen, die in ihrem leisen, absurden Humor auf eine Herausforderung religiöser Autoritäten zielt. Der Aufbau des Films ist episodenhaft, Drama und Gefühlsausbrüche sind konsequent ausgesperrt. Zwischen den langen Gesprächen liegen Ortswechsel und Landschaftsansichten, nicht selten prachtvoll von Sonnenlicht durchflutete Idyllen; die Naturschönheit bildet einen utopischen Kontrast zum menschlichen Treiben.

Aus der Sicht eines Sohnes

Der Protagonist Sinan hat Literatur studiert und möchte Schriftsteller sein. Gerade hat er ein erstes Buch fertiggestellt, das dem Film den Titel gibt: „The Wild Pear Tree“. Die Stimmung des Autors schwankt zwischen Stolz, Arroganz gegenüber seiner Umwelt und offener Unsicherheit. Denn wo oder wie kann er sein Buch veröffentlichen? Und wer will es lesen? Wie soll es überhaupt mit ihm selbst weitergehen?

„The Wild Pear Tree“ ist nicht der erste Film von Nuri Bilge Ceylan, den man als eine Variation von Western-Motiven begreifen kann. Die große Bedeutung der Natur, das Nachhausekommen eines „verlorenen Sohns“, das Aufeinanderprallen von einfacher ländlicher Welt, der „Heimat“ und ihrer Menschen mit der Intellektualität und Komplexität des Stadtbewohners und seinem modernen, „entfremdeten“ Bewusstsein spielten in unterschiedlicher Gewichtung in allen Filmen Ceylans eine Rolle. Und auch hier erzählt Ceylan aus einer Männer- und Sohn-Perspektive.

Besonders deutlich liegen die autobiografischen Bezüge zutage. Denn das alle Szenen verbindende Motiv ist das des Daseins eines Künstlers in der Welt und speziell in der aktuellen Türkei. Sinan, der in nahezu jedem Moment im Bild ist, ist zudem ein sehr spezieller Charakter – unhöflich und grob zu seinen Mitmenschen. Er verachtet offen den Ort seiner Herkunft, ist ihm aber zugleich erkennbar verhaftet. Auch emotional hält ihn mehr, als anfangs zu erkennen ist. Die erste von drei zentralen Szenen ist zugleich die ernsteste: eine Begegnung mit der Schulfreundin Hatice, die von beidseitig mühsam beherrschtem Begehren geprägt ist, ehe Sinan ihre zarten Annäherungsversuche brüsk zurückweist. Während man als Zuschauer noch mit Sinans Verhalten hadert und schon genug über ihn zu wissen glaubt, um einen unterdrückten Schmerz zu spüren, wird hier einmal mehr deutlich, dass sich Ceylan mit Ausnahme der deutlich differenzierteren Zeichnung weiblicher Figuren in „Winterschlaf“ nie besonders für Frauenfiguren interessiert hat. Sie sind bei ihm auf dramaturgische Funktionen reduziert: Als Bedrohung männlicher Identität, die den Künstler von seinem Weg abbringen und den Sohn mit destruktiven Fragen entmündigen will: „Wo haben dich die Bücher schon hingebracht?“

Eine „schrullige autofiktionale Meta-Novelle“

Der Grund für Sinans Heimkehr liegt zunächst in der Absicht, das Geld für seine Buchveröffentlichung zusammenzubekommen. Er wirbt und bettelt, stößt aber nur auf freundlich verklausulierte Ablehnung. Der Vater, zu dem er ein problematisches Verhältnis hat, bezieht als Lehrer zwar ein festes Beamtengehalt, steckt aber bis über beide Ohren in Spielschulden, sodass zuhause gelegentlich sogar der Strom abgestellt ist, und Mutter und Schwester unter der Belastung verzweifeln. Der Bürgermeister des Ortes erklärt, man könne nur „touristische Literatur“ öffentlich fördern. Für Künstlerstipendien gäbe es keine Möglichkeiten – ob das Buch denn „lokale Helden“ habe? Der Charakter des Buches bleibt unklar: Es verbindet offenbar Kurzgeschichten mit Essays; Sinan selbst beschreibt es einmal als eine „schrullige autofiktionale Meta-Novelle“.

In seinem alten Jugendzimmer steht deutlich sichtbar eine Fotografie von Albert Camus, was aber eher Ceylans eigene Position eines in sich ruhenden, heiter-mediterranen Moralismus und Absurdismus charakterisiert als die Sinan-Figur, die in ihrer latenten Misanthropie und Aggression, ihrem übertriebenen Ehrgeiz und Zynismus mehr einem Roman von Dostojewski entstiegen scheint.

Das zweite zentrale Gespräch entspinnt sich mit einem lokalen Autor und Buchhändler. Zwischen zwei Postern von Franz Kafka und Gabriel García Márquez, welche die ästhetischen Pole markieren, debattieren sie in zunehmend aggressiverem Ton, ob Kunstwerke eine Botschaft haben sollten und einen autobiografischen Bezug, oder ob es erlaubt sei, in der Kunst reale Schicksale zu verarbeiten. Nur wenig verklausuliert reflektiert Ceylan hier auch sein eigenes Dasein als progressiver Künstler in einer zuletzt immer konservativeren Türkei, aber auch die Spannung zwischen den an der Oberfläche apolitischen Filmen und der Suche des Publikums nach noch so kleinen politischen Fingerzeigen. In dieser Szene geht es aber auch um Ceylans Beziehung zu seinem Kollegen Zeki Demirkubuz, deren Freundschaft jüngst zerbrach.

Die Widersprüche eines ganzen Landes

Seine eigene politische Position macht Ceylan in „The Wild Pear Tree“ klarer denn je. Eine Figur sagt: „Bildung ist großartig, aber wir sind in der Türkei.“ Und am Telefon hört Sinan einem Freund, der Literatur studierte, aber jetzt bei einer Spezialeinheit der Polizei Proteste niederknüppelt: „Jeden, den wir sehen, schlagen wir zusammen“, konstatiert der Feingeist nüchtern, und verkörpert damit die Widersprüche eines ganzen Landes.

Sinan selbst ist mit der Aussicht konfrontiert, bald seinen dreijährigen Militärdienst ableisten zu müssen, und später, falls er nicht als Autor existieren kann, im anatolischen Osten als Dorfschullehrer eingesetzt zu werden.

In der dritten zentralen Szene, dem Gespräch mit zwei Imamen, treibt Ceylan den kalten Zorn seiner Hauptfigur ins Religiöse: Die Imame pflücken einen Apfel vom Baum, und Sinan spricht sie an: Ob das nicht Diebstahl sei? Eine theologische Debatte entspinnt sich, die philosophische Fragen über Willensfreiheit ebenso berührt wie Popkultur: „Janet Jackson trägt jetzt einen Schleier.“

Auf diese Weise enthüllt sich „The Wild Pear Tree“ als komplexe Reflexion über die Existenz eines Künstlers, die nicht idealisiert, sondern zwischen Pragmatismus und Berechnung, Arroganz und Überdruss, Leiden an der Heimat und Sehnsucht nach dem Anderen verortet wird. Zugleich unternimmt Ceylan eine kulturelle Introspektion: Die Provinz Çanakkale, in der alles spielt, liegt im Westen der Türkei, etwa 200 Kilometer südlich von Istanbul; in Gesprächen wird darauf hingewiesen, dass dies sowohl die Gegend war, in der einst Troja stand, als auch, wo die blutige Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg stattfand.

Die Bücher stapeln sich in der Ecke

Während des knappen Jahres, das die Zeitspanne des Films umfasst, erlebt man die Desillusionierung der Hauptfigur. Am Ende ist sein Buch gedruckt, in einer Auflage von 500 Stück. Doch keiner liest es. Fast alle Exemplare stapeln sich originalverpackt in Sinans Zimmer. Seine Familie übt sich in Ausreden – man komme schließlich kaum zum Lesen. Hier scheint die Haltung des Regisseurs zwischen Ironie und Melancholie noch einmal auf. Wie es mit Sinan am Ende weitergeht, bleibt offen.

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