Dokumentarfilm | Deutschland/Schweiz 2019 | 97 (TV auch: 52) Minuten

Regie: Noël Dernesch

Eine Handvoll Männer mit gepflegten Bärten und wohldefinierten Körpern, die aus türkisch- oder arabischstämmigen Großfamilien stammen, erzählen erstaunlich offen und in breitem Berliner Szene-Slang über ihr Leben und ihre Erfahrungen, gescheiterte Träume, krumme Deals, Knast und Drecksarbeit und Gangsta-Rap. Die über mehrere Jahre hinweg entstandene Dokumentation folgt den Protagonisten mit sanftem Gestus, aber erstaunlich unkritisch durch ihr Leben, das sich in einer Parallel-Blase aus sozialer Kontrolle und bedingungsloser Unterstützung durch den Familienverbund abspielt. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ANOTHER REALITY
Produktionsland
Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Elemag Pic./Cognito Films/It's Us Media/27 Kilometer/rbb/WDR/SRF
Regie
Noël Dernesch · Olli Waldhauer
Buch
Noël Dernesch · Olli Waldhauer
Kamera
Friede Clausz
Musik
Beat Solèr
Schnitt
Gesa Jäger
Länge
97 (TV auch: 52) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Doku über eine Handvoll türkisch- und arabischstämmiger Jungmänner aus Berlin, die innerhalb ihrer weitschweifigen Familienclans in einer Parallelwelt aus sozialer Kontrolle und bedingungsloser Sippen-Solidarität leben.

Diskussion

Wer schon immer neugierig war, wie seine schönheitsbewussten Nachbarn in den Dönerbuden, Shisha-Bars oder mit maximaler Geschwindigkeit vorbeirasenden Sportwagen ticken und sich mit fiktionalen Serien wie „4 Blocks“ nicht abspeisen lassen wollte, der ist bei diesem sanft beobachtenden Doku-Ausflug in die fremde vertraute Welt nebenan genau richtig. Der martialische Slang und der Dresscode aus Bärten, gezupften Brauen, akkurat frisierten Haaren und breiten Schultern ist in dieser männlich dominierten Szene unverzichtbar. Sie verschaffen ein Zugehörigkeitsgefühl in einem Land, das zwar Zuflucht bietet, aber selbst noch die Kinder und Enkel der Gestrandeten nicht zu integrieren vermag.

„Ich bin hier geboren, zur Schule gegangen, das Polizeizeugnis ist leer“, erzählt einer der fünf Protagonisten von „Another Reality“ in einem Berliner Kiosk. Die Bundeswehr wollte ihn trotzdem nicht nehmen, da er keinen deutschen Pass besaß. Seine beiden Kompagnons, die man mit ihrer entwaffnenden Präsenz sogleich in einem frühen Film von Jim Jarmusch verorten möchte, können da nur schmunzeln. Während sie mit Hingabe an ihren Sonnenblumenkernen knabbern, gesteht einer von ihnen, dass er mal Polizist werden wollte. Die Bewerbung auf der Polizeischule lief bereits. Hätten sich die Anzeigen wegen Körperverletzung, Raub, Erpressung und Bedrohung von Zeugen nicht gehäuft, stünde er heute auf der anderen Seite.

Im Schutz der Großfamilie

Man spürt, dass er auf diese Auflistung stolz ist. Dass er der Verlockung des „schnellen Geldes“ nicht widerstehen konnte, wird ihm nicht etwa als therapiebedürftige Schwäche ausgelegt. Es ist nur die „verfickte“ Realität, mit der diese schweren Jungs in ihren großstädtischen Multi-Kulti-Vierteln oder ausgrenzenden Plattenbausiedlungen aufgewachsen sind, als Mitglieder von Großfamilien, die es bei Hochzeiten auf über 800 Teilnehmer bringen. Die Vernetzungen untereinander reichen bis in den Libanon, Schweden oder die USA. Immer findet sich ein Cousin, der mit einem Auftrag aushelfen kann, welcher das Portemonnaie üppig füllt – oder sich als direkter Weg ins Gefängnis entpuppt.

Versuche, mal „irgendwas mit den Medien zu machen“, sind da nur zum Scheitern verursacht. „Das, was die mir da finanziell angeboten haben, war katastrophal“, konstatiert der Vierte des Quintetts mit sichtlicher Genugtuung. „Drecksarbeit zu machen ist okay, aber dann lieber für die Familie“, lautet das Urteil des verhinderten Fernsehstars. Die Familie hat für ihn die Führung eines Autoverleihs vorgesehen, unter Aufsicht eines Onkels, der streng die Geschäfte überwacht. Würde er Achim heißen und nicht Ahmed, wäre er vielleicht sogar Fußballprofi geworden. Dass es in Deutschland inzwischen millionenschwere Spieler „mit Migrationshintergrund“ gibt – geschenkt. Da leidet man schon lieber mit dem ehemaligen Kleinkriminellen, der über die Einsamkeit und das Verantwortungsgefühl des Berufsstands philosophiert und sich über den posttraumatischen Tick beschwert, nie mit dem Rücken zur Tür sitzen zu wollen.

Immer zwischen den Stühlen

Gäbe es da nicht den Rückfall in Gangsta-Rap-Posen einige Szenen später, der den Kampf gegen die eigenen Dämonen als die wahre Lebensherausforderung erscheinen lässt, denn „Nächstenliebe zu geben“ sei schwerer als den Pistolenabzug zu ziehen. Andere erzählen – weniger auf einschüchternde Wirkung bedacht – davon, zwischen den Stühlen zu sitzen, im Ausland als Deutscher zu gelten, in Deutschland aber nicht wirklich angenommen zu werden. Gerade diese Doppel-Identität sei eine Motivation, „auf legale Weise etwas auf die Beine zu stellen“.

Während in den Medien das Schreckgespenst von arabisch-stämmigen Clans ein differenziertes Bild verhindert, begnügen sich die Regisseure Noël Dernesch und Olli Waldhauer mit einer erstaunlich zurückhaltenden Machart. Statt Bilder von Razzias, Prügeleien oder Gerichtsverhandlungen zu integrieren, folgen sie den „Gefährdeten“, die aus dem Off und vor der Kamera über ihre riskanten Entscheidungen Rechenschaft abgeben, in die Fitness-Studios zum Muskelaufbau, für den Fall, dass Mitglieder eines anderen Clans für die Taten eines Onkels oder Cousins Rache nehmen möchten.

Oder in das Musikstudio des Rapper PA Sports, der sich seinen „Jugendtraum vom Geld“ erfüllt und damit als schwarzes Schaf einer Akademiker-Familie als einziger einen anderen Weg eingeschlagen hat. Zum einsamen Joggen und Joint-Rauchen mit der Gang, die über die Vorzüge der Abstinenz diskutiert. Und in Wettbüros, wo auf Fußballspiele gesetzt wird.

Eine Blase aus Kontrolle und Hilfe

Die 95 Filmminuten verfliegen wie eine impressionistisch-melancholische und auch komische Meditation über die Versuchungen einer Outsider-Existenz, erzählt aus der Sicht der Betroffenen, die keine Angst vor der Konfrontation mit Eltern, Lehrern, Sozialarbeitern, Frauen, Schwestern oder gar den Opfern haben müssen. Sie bleiben in ihrer Parallel-Blase aus sozialer Kontrolle und bedingungslos Hilfe leistender Sippe geschützt. Vielleicht waren sie auch nur deswegen bereit, über mehrere Jahre hinweg so entspannt über ihr „stressiges“ Dasein zu reflektieren – ohne dass das mitfühlende Regie-Duo Wert darauf gelegt hätte, die Selbstdarstellung mit Fakten und Zahlen zu konterkarieren.

Da war Mathieu Kassowitz mit seinem konfliktgeladenen Banlieue-Porträt „Hass“ aus dem Jahr 1995 schon weiter. Aber vielleicht ist die Situation der Berliner Clans auch komfortabler als die ihrer Leidensgenossen in den verlässlich von Revolten heimgesuchten Pariser Vororten.

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