Nr. 387 - Ertrunken im Mittelmeer

Dokumentarfilm | Frankreich 2019 | 61 Minuten

Regie: Madeleine Leroyer

Am 18. April 2015 sank 130 Kilometer vor der libyschen Küste ein Schiff mit über achthundert Migranten. Die italienische Regierung ließ das Schiff bergen und die Toten so weit möglich identifizieren. Der Dokumentarfilm begleitet die Leiterin der Mission sowie ihre Mitarbeiter, die auf Sizilien und in Nordafrika versuchen, die Identität eines ertrunkenen Mannes herauszufinden, von der nur die Fragmente eines Liebesbriefs Hinweise geben. Die pietätvolle Arbeit der Gruppe setzt sich in der behutsam beobachtenden Kameraführung fort, die gleichermaßen die Toten vom Schicksal der Anonymität befreien will. Dem Film gelingt dadurch die Adressierung einer Sphäre eines universell Menschlichen, das für die Ansprache durch das Ethische sensibilisiert und in unaufdringlicher Weise auch politisches Handeln motiviert. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
#387
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Little Big Story/Stenola Prod./Graffiti DOC
Regie
Madeleine Leroyer
Buch
Cécile Debarge · Madeleine Leroyer
Kamera
Thibault Delavigne
Musik
Olivier Bodin · Benoît Daniel
Schnitt
Tania Goldenberg
Länge
61 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Bewegende Dokumentation über die Suche nach der Identität der Toten eines im Mittelmeer gesunkenen Schiffes mit 800 afrikanischen Migranten, deren Überreste in namenlosen Gräbern liegen.

Diskussion

Fragmente eines Liebesbriefes erzählen bruchstückhaft von einem namenlos bleibenden jungen Mann, der auf ein Wiedersehen mit seiner Geliebten Oluiti hofft. Das zerfetzte Papier, auf dem er ihren Namen anruft, ist vom Salzwasser angegriffen. Monatelang hat es auf dem Grund des Meeres in einem schwarzen Lederportemonnaie überlebt. Vom Autor des Briefes bleiben nur Knochenreste, verfangen in einem Kapuzenpullover. Mit großer Sorgfalt sammelt die forensische Medizinerin Cristina Cattaneo Spuren der Menschen, deren Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa mit dem Ertrinken auf hoher See endete.

Am 18. April 2015 sank vor der libyschen Küste ein Boot mit mehr als achthundert Migranten auf dem Weg nach Italien. Es handelt sich dabei um die größte derartige Katastrophe im Mittelmeer seit dem Zweiten Weltkrieg. Entgegen ihrem üblichen Handeln entschied sich die italienische Regierung, das Wrack vollständig zu bergen und die Toten zu bestatten. Das durchlöcherte kleine Schiff wurde 2019 in einer kontroversen Entscheidung auf der Kunstbiennale in Venedig ausgestellt. Die menschlichen Überreste verteilen sich im Land auf verschiedene Friedhöfe, die an ihren Rändern anonyme Gräber geschaffen haben. Auf den kleinen, vorläufig wirkenden Grabmalen sind nur Nummern zu lesen. Der Liebesbrief gehört zu einem Mann, der die Nummer 387 trägt.

Die junge Anthropologin Giorgia Mirta folgt den Spuren dieser Zahlen bis in die Archive der Städte. Dort werden ihre Sterbeurkunden neben denen der italienischen Bürger geführt. Doch statt eines Namens ist immer nur „Sconosciuto“ – „Unbekannt“ auf den Dokumenten zu lesen. In mühsamer Kleinarbeit versucht Mirta gemeinsam mit Forensikern die Identitäten der Verstorbenen zu rekonstruieren und mit ihrer letzten Bleibe in Verbindung zu bringen. Die Würde des Menschen gebietet nicht nur eine Bestattung, sondern auch die Möglichkeit einer Erinnerung, einen Namen. Gerechtigkeit, so Mirta, ist mit der Gewährleitung dieser Menschlichkeit verbunden.

Von den Toten zu den Lebenden

In der Zusammenarbeit mit dem Menschenrechtler José Pablo Baraybar geht die Anthropologin sogar noch weiter: In einem beispiellosen Projekt versuchen sie gemeinsam, die Angehörigen der Verstorbenen zu finden, um ihnen Gewissheit zu geben und damit auch Trauer zu ermöglichen. Ein schwieriger Prozess, der sich neben den forensischen Spuren auch auf Zeugen stützen muss.

Das dokumentarische Langfilmdebüt „#387“ der Regisseurin Madeleine Leroyer sticht aus der Vielzahl von aktivistischen Beiträgen zu Flucht und Migration durch seine zurückhaltende Sensibilität heraus. Der Film gibt den Verschwundenen einen Raum, der Anteilnahme und Gedenken ermöglicht, ohne ihre schmerzhafte Abwesenheit vollständig auflösen zu wollen. Dieses Verweilen bei der Spur schafft eine nachhaltige Betroffenheit, die sich nie aufdrängt, sondern über die Grenzen der Zugehörigkeit hinaus berührt.

Wenn die Kamera der mutigen Arbeit der Forensikerinnen folgt, die gemeinsam mit Cristina Cattaneo die Leichensäcke öffnen, tauchen aus der abjekten Sphäre des Todes Fragmente eines uns vertrauten Alltags auf. Verwaschene Familienfotografien, SIM-Karten und in Plastiktüten versiegelte Banknoten, Kleidungsstücke und Impfausweise, Zahnpastatuben und Rosenkränze. Die Nähe, die dadurch entsteht, lässt sich kaum zurückzuweisen.

Forensik und materielle Evidenz

Eine weitere Schwierigkeit entsteht durch die Ungewissheit über die Echtheit der gefundenen Ausweisdokumente. Ein eritreischer Mitarbeiter des Roten Kreuzes verweist auf die gängige Praxis der Fälschung von Papieren vor der Überfahrt. Viele afrikanische Migranten hätten ihre Namen ändern lassen, in der Hoffnung, ihre Chancen auf Asyl zu erhöhen. So bleibt den Menschenrechtlern nichts anderes übrig, als auf die Analyse von DNA-Proben zu setzen.

Der Peruaner Baraybar hat viel Erfahrung mit der Restitution menschlicher Überreste. Weltweit setzt er sich für Aufklärung von Genozid und Gewalt ein. Bei der juristischen Aufarbeitung des Massenmordes von Srebrenica spielte er eine entscheidende Rolle. Doch diesmal ist die Sachlage anders. Es sind nicht die Angehörigen, die mit Hilfe der Forensiker die Verschwundenen suchen; die Suche gilt umgekehrt den Familien, die keine Möglichkeit haben, die Gräber der Verstorbenen zu finden.

Über die Hilfe eines afrikanischen Aktivisten, der über Social Media Zeugen für das Unglück sucht, gelingt der Kontakt zu einem der wenigen Überlebenden. Er lebt heute mit Frau und Kind in Europa, doch es fällt ihm schwer, von der traumatischen Erfahrung zu berichten. Von selbst wäre er aus verständlichen Gründen wahrscheinlich nie dazu gekommen, Zeugnis abzulegen. Umso wichtiger ist es, dass Leroyers Film seine Aussagen festhält.

Die Präsenz der Absenz

Auch wenn „#387“ die Arbeit der Menschenrechtler und Wissenschaftler begleitet, stellt der Film sie nie als Personen in den Vordergrund. Es geht nicht um das In-Szene-Setzen einer moralischen Haltung, sondern um eine Anteilnahme am Schicksal der Betroffenen. Dabei löst der Film die Fremdheit nicht auf, sondern vermeidet auf diese Weise schematisierte Opfernarrative der Verunglückten, die eine unzulässige Aneignungen ihrer Geschichte wären. Stattdessen erzeugt „#387“ eine starke Wirkung durch die Adressierung einer Sphäre des Gemeinsamen, eines universell Menschlichen: der Verletzbarkeit und Sterblichkeit, der Bezogenheit auf bedeutsame Andere und die Alltäglichkeit des Lebens.

In einer bewegenden Episode erzählt Giorgia Mirta vom Verschwinden ihres Großvaters, der Opfer der italienischen Mafia wurde. Sein Körper wurde nie gefunden; die Großmutter ließ ihr Leben lang die Zahnbürste ihres Mannes auf dem Sims des Waschbeckens stehen. Sein Arbeitszimmer blieb unberührt, die Stifte auf dem Tisch schienen Jahrzehnte lang auf seine Rückkehr zu warten, als sei nichts geschehen. Es ist diese Präsenz der Absenz, wie sie Mirta so treffend nennt, die zum Angelpunkt von „#387“ wird. Über die Empathie für das Einzelschicksal hinaus gelingt Madeleine Leroyer eine Sensibilisierung für eine Ansprache durch das Ethische, die im besten Fall auch das Politische motiviert.

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