Dokumentarfilm | Italien/Frankreich/Deutschland 2020 | 100 Minuten

Regie: Gianfranco Rosi

In seinem Dokumentarfilm begleitet Gianfranco Rosi unterschiedliche Menschen im Nahen Osten, die versuchen einen Alltag in der von kriegerischen Auseinandersetzungen und Terror gezeichneten Region zu führen. Dabei verzichtet der Film völlig auf Kontextualisierungen und Einordnungen des Gezeigten und der Porträtierten, gleichwohl zeichnet ihn ein besonderes Gespür für das Verhältnis der Menschen untereinander und zu den Orten aus. Auch ohne viel Hintergrundinformationen werden durch diese Beobachtungen die Erfahrungen und Lebensumstände der Porträtierten universal nachvollziehbar. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
NOTTURNO
Produktionsland
Italien/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
21 Unofilm/Stemal Entertainment/Les Films d'Ici/No Nation Films/Mizzi Stock Entertainment
Regie
Gianfranco Rosi
Buch
Gianfranco Rosi
Kamera
Gianfranco Rosi
Schnitt
Jacopo Quadri · Fabrizio Federico
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm über Menschen in Syrien, dem Irak, Kurdistan und Libanon, deren Alltag vom Bürgerkrieg, brutalen Diktaturen, militärischer und politischer Interventionen oder dem Terror fundamentalistischer Gruppen geprägt ist.

Diskussion

Ruinen sind stumme Zeugen. Sie können nicht erzählen, was sie miterlebt haben, und doch speichern sie die Ereignisse aus der Vergangenheit. Sie halten die Zeit fest und verfallen gleichzeitig mit ihr. So ein verwahrloster Ort ist das Gefängnis zu Beginn des Films. Es liegt mitten in einer Wüstenlandschaft. Eine Gruppe von Frauen mit Kopftüchern steigt durch die zersprengten Steinwände in das Innere des Bunkers. Sie durchschreiten die leeren Räume und durchbrechen die Stille mit gemurmelten Klagen oder Gebeten. Als eine von den Frauen eine staubige Wand berührt, kommen ihr die Tränen. Mit geschlossenen Augen tastet sie nach dem, was die Ruinen mitansehen mussten. In diesem Raum wurden Männer – darunter ihr Sohn – hingerichtet.

Anonymität vs. Individualität

Diese Szene beinhaltet bereits alle Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarfilmregisseurs Gianfranco Rosi. Sein Film „Notturno“ lief 2020 beim Filmfestival in Venedig im Wettbewerb und ist nun auf MUBI streambar. Rosi verzichtet in seinen Arbeiten weitgehend auf Hintergrundinformationen und Kontextualisierung. Eine Texttafel erklärt anfangs nur, dass er für die Dreharbeiten drei Jahre in Irak, Syrien, Libanon und Kurdistan verbracht hat. Konkrete Orte und Personen benennt er nicht. So wie das Gefängnis (ein ehemaliger Bau von Saddam Hussein, wie er in einem Q&A erzählt) und die Frau bleiben auch die weiteren Protagonist:innen anonym. Das hat zu der Kritik geführt, Rosi würde sich nur aus der Distanz für das Geschehen interessieren und die Menschen in ihrer Individualität verbergen.

Das Risiko besteht tatsächlich, dass Zuschauende die Bilder nicht (politisch) einordnen können. Aber es greift zu kurz, den Dokumentarstil von Rosi darauf zu reduzieren. Seinen Dreharbeiten geht stets eine intensive Recherchephase voraus, in der der Regisseur sich die Zeit nimmt, eine Vertrauensbasis zwischen sich und den Protagonist:innen zu schaffen. Erst dann kommt die Kamera hinzu. 90 Stunden Rohmaterial sind im Fall von „Notturno“ dabei herausgekommen, die nun auf 100 Minuten verdichtet sind. Und die Intimität zwischen den Menschen, der Kamera und dem Regisseur merkt man jeder Einstellung an. So hatte Rosi zwar die Idee, in dem Gefängnis mit den Frauen zu drehen, doch was für Emotionen die Ruinen freigesetzt haben, entzog sich der Einflussnahme des Regisseurs. Es sind solche Momente, in denen das konkrete Leid der Menschen auf allgemeingültiger Ebene erfahrbar wird.

Filmbilder jenseits von Nachrichtenbilder

Zu den weiteren Protagonist:innen zählen: Patient:innen in einer Klinik, die ein Theaterstück über ihre Heimatländer proben; Kinder, die in Zeichnungen ihr Trauma vom Terror des Islamischen Staats verarbeiten; Soldatinnen, die patrouillieren und gemeinsam essen; ein Straßensänger, der von seiner Frau vor der Arbeit angekleidet wird; eine Mutter, die Sprachnachrichten von ihrer vom IS entführten Tochter erhält; ein älterer Junge, der fischt und jagt, um seine Familie zu versorgen; Gefangene, die tagsüber im Hof spazieren, bevor sie hinter einer Eisentür eng zusammen sitzen.

Die Auswahl der Menschen zeigt ein ambivalentes Bild vom Nahen Osten, das über die täglichen Nachrichtenmeldungen im Westen weit hinausgeht. Das Leben der Bewohner:innen in dieser Region befindet sich nach Jahrzehnten von Krieg und Terror immer noch in einer Schockstarre, die sich nur langsam auflöst. Männer befinden sich in getrennten Sphären von Frauen. Väter von Kindern. Eine Mutter von ihrer Tochter. Erst wenn die Menschen wieder in Verbindung treten, spürt man ein Gefühl von Erleichterung. Auch wenn die Familie zum Essen schweigt, merkt man durch das Schulter-an-Schulter-Sitzen von der Mutter und den Kindern den lang ersehnten Zusammenhalt.

Menschen, Städte und Landschaften

Auch auf einer abstrakten Ebene treten die Menschen in Kontakt mit den anderen. Die Patient:innen lernen den Theatertext auswendigen, der an ihre eigene Lebensgeschichte angepasst wurde. So begegnen sich das Fremde und das Eigene. Als die Mutter die Gefängniswand berührt, überschreitet sie gleichsam die Grenze von Leben und Tod und fühlt sich ihrem ermordeten Sohn nah. Rosi hat eine Sensibilität dafür, wie das Leben der Menschen mit Räumen, mit Städten und Landschaften verwoben ist. Egal ob es das sperrige Gefängnis oder verwinkelte Gassen, Flüchtlingszelte im Schlamm oder ein Fischerboot im Sonnenuntergang sind: Die Menschen er- und beleben die Orte. Damit sind sie alles andere als stumme Zeugen.

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