Drama | Deutschland 2019 | 112 Minuten

Regie: Michael Fetter Nathansky

Ein Unbekannter schubst eine dicke Frau von einer Brücke. In jeweils eigenen Kapiteln fragen die Verletzte, ihre auf eigene Faust ermittelnde Schwester und auch der Täter, wie es zu dieser Tat kommen konnte, und geraten dabei in einen Reigen voller Lügen und Unergründlichkeiten. Was wie ein Kriminalfall beginnt, entfaltet bald einen absurden Humor, der aber nicht auf Kosten der Figuren geht. Der von kraftvollen Dialogen geprägte Film steckt voller überraschender Wendungen und Montagen, wobei sich die Perspektiven immer wieder verschieben. Aus Bildern, Charakteren und Berliner Dialekt erwächst ein dichtes filmisches Gewebe, das so differenziert wie virtuos am Tragikomischen strickt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Wood Water Films/Contando Films/Leuchtstoff/rbb/Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf
Regie
Michael Fetter Nathansky
Buch
Michael Fetter Nathansky
Kamera
Leander Ott
Musik
Marcus Sander
Schnitt
Camila Mercadal
Darsteller
Gisa Flake (Silke) · Christina Große (Moni) · Marc Ben Puch (René) · Bettina Grahs (Ärztin) · Patrick Heinrich (Sven)
Länge
112 Minuten
Kinostart
15.10.2020
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Episodenfilm | Tragikomödie
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In drei Kapiteln aus je einer anderen Perspektive geht der virtuose Film der Frage nach, warum eine Frau von einer Brücke gestoßen wurde.

Diskussion

Ein Schiffshebewerk ist etwas, das Tausende Tonnen bewegt, und Maschinistin Silke (Gisa Flake) ist diejenige, die hier für einen reibungslosen Ablauf sorgt. Manchmal schaut sie nach unten, in die Tiefe, und sieht dort etwas, das bedeutsam sein könnte oder auch nicht, einen Fuchs im Gebüsch oder ein rotes Stück Stoff im Wasser. Als sie sich wieder einmal übers Geländer beugt, verpasst ihr jemand einen Schubs, und sie stürzt ins Wasser, mit einem lauten Plumps. Im Trailer von „Sag du es mir“ sieht das sehr lustig aus; für ihre Darstellung erhielt Gisa Flake auch den Deutschen Schauspielpreis in der Kategorie „komödiantische Rolle“. Die Kategorie, in die der Film „Sag du es mir“ von Michael Fetter Nathansky passt, müsste aber erst noch erfunden werden.

Der 1993 in Köln geborene Regisseur erzählt die an Berliner (Umland-)Gewässern angesiedelte Geschichte in drei Kapiteln aus drei verschiedenen Perspektiven. Tiefe und Fallhöhe sind hier zunächst sehr wörtlich zu verstehende Dinge. Dreh- und Angelpunkt ist der Vorfall an der Brücke. Wer tut denn sowas? Und warum?

Auf Hochdeutsch kitschig – berlinerisch stimmig

Zu Beginn sieht man Silke mit Halskrause, wie sie Kriminalbeamten ein paar Fragen beantwortet. Die Polizei geht davon aus, dass der Täter ein Betrunkener war, damit ist der Fall erledigt. Doch Silkes Schwester Moni (Christina Große), die offenbar eigens aus Mallorca angereist ist, um zu helfen, beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Wie hilfsbedürftig diese dünnhäutige Frau selbst ist, wird der skeptischen Silke erst nach und nach klar. Im zweiten Kapitel entfaltet sich das Ereignis aus Sicht des Täters René (Marc Benjamin Puch). Darin kommt eine Tragikomik zum Vorschein, die jederzeit ins Psychiatrische umschlagen könnte. Es geht um beängstigende, aber auch tröstliche Fragen, die auf Hochdeutsch kitschig, auf Berlinerisch aber stimmig und drängend klingen, wie: Kann man etwas „aus Versehen“ denken? Oder etwas tun, das man überhaupt nicht will? Sind Lügen manchmal wahrer als die Wahrheit? Kann man jemandem mit etwas Schlechtem eher helfen als mit etwas Schönem? 

Das Krimi-Element bildet zwar den dramatischen Kern, doch die immer wieder um Zuverlässigkeit ringende Erzählung nimmt von den Rändern her mit jedem Kapitel neu Anlauf. Manches überschneidet sich, anderes, das man bereits erkannt zu haben meint, verschiebt sich. Schon Schnitt (Camila Mercadal) und Kamera (Leander Ott) erzeugen mit Auslassungen, Abkürzungen, stoischen Totalen und zeitversetzenden Schleusungen zwischen den Kapiteln eine gewisse Lakonie, doch darüber hinaus ist „Sag du es mir“ vor allem auch ein sprachliches Kunstwerk. In prägnanten Dialogen wird Dahergesagtes in Variationen so lange breitgetreten, bis es eine ungeahnte philosophische Größe oder Absurdität preisgibt. Bild und Wort verbinden sich zu einem auf allen Ebenen überraschenden und doch stringenten filmischen Textgewebe.

Das ist ein Dorsch

Hinter der Geschichte vom Brückensturz steht allerdings noch eine andere, und auch mit dieser scheint jede der Figuren wie durch einen geheimen Kanal verbunden. Ein Kind mit einer roten Jacke wurde entführt; der Täter wird öffentlich gesucht. Auch hier verbleibt der Film an den Rändern, interessiert sich weder für das Kind noch den Täter, sondern wirft stattdessen weitere Schlaglichter auf die Verlorenheiten der drei Hauptfiguren, die wie große Kinder immer mal wieder Rat bei ihren unsentimentalen Eltern suchen.

Natürlich ist es komisch, wenn sich René auf der Suche nach Erklärungen für sein Tun an einen Freund (Patrick Heinrich), seine kluge Ex-Freundin (Sarah Sanders) oder an einen Arbeitskollegen wendet, weil der Therapie-Erfahrung hat. Und natürlich ist es amüsant, wenn der junge Deniz (Walid Al-Atiyat), der in der Nachbarschaft nach dem Verbleib des vermissten Kindes forscht, in einer romantischen Szene ein Geschenk mit den Worten überreicht: „Das ist ein Dorsch.“ Doch Überraschungen wie diese, zwischen sturztrockenem Realismus und Mumblecore-Schrägheit, erschöpfen sich nicht im Gag, sondern haben ihren Anteil am verschroben-verwobenen Geflecht der Geschichte. So sehr René buchstäblich zum Erklär-Bären seiner selbst zu werden versucht, so sehr ironisiert der Film jeden sich an Verbrechen abarbeitenden Psychologismus.

Durchs dramaturgische Stahlgerüst

Insbesondere Gisa Flake spielt ihre Figur nicht besonders komödiantisch, obwohl ihre Erscheinung entsprechende Rezeptionsmuster zu bedienen scheint. Ihre Körperfülle überspielt sie weder, noch setzt sie diese als humoristisches Element der Unzulänglichkeit ein. Unzulänglich ist Silke nie, und gemütlich erst recht nicht. Ernst, manchmal leicht genervt, den mächtigen Unterkiefer unter dem kleinen Näschen und den schönen Augen leicht nach vorn schiebend, findet sie sich in feinen Abstufungen mit den Unvereinbarkeiten und Beschwerlichkeiten des Lebens mehr oder weniger ab, um sich dann plötzlich doch noch mit grimmiger Entschlossenheit dagegenzustemmen. Bei aller Wucht bewegt sie sich aufrecht, kraftvoll und wenn nötig auch äußerst agil durch das dramaturgische Stahlgerüst dieses Films.

Ebenso wenig wie ihr Körperumfang wird der Berliner Dialekt zum Entertainment-Effekt degradiert. Vielmehr gesteht Regisseur Nathansky der unerschütterlichen Berliner Sprachmelodie und ihrer Freude am Weglassen und Breittreten einen gewichtigen Anteil am Geschehen zu. Sprachfluss und Tiefgang scheinen aus dem Feuchtgebiet zu stammen, das diese Gegend ursprünglich einmal war. So sehr, dass „Sag du es mir“ als Berliner Wasser-Film sich vor „Undine“ von Christian Petzold nicht verstecken muss – und in manchen Aspekten vielleicht sogar der komplexere und poetischere Film ist.

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