Drama | Indien 2020 | 98 Minuten

Regie: Ivan Ayr

Ein Gesellschaftsdrama aus dem indischen Arbeitermilieu. Im Fokus steht ein erfahrener Lkw-Fahrer, der in seinem privaten wie beruflichen Umfeld plötzlich vor erheblichen Herausforderungen steht. Die katastrophalen Arbeitsbedingungen fordern immer deutlicher ihren körperlichen Tribut. Zudem wird dem seit kurzem verwitweten Mann auch noch ein junger Nachwuchsfahrer vor die Nase gesetzt, den er anlernen soll. Das in der Hauptrolle glänzend besetzte und dramaturgisch sublim verdichtete Sozialdrama erzählt vom Aufbäumen eines Einzelnen in der kapitalistisch komplexen und sozial ungerechten Gesellschaft Indiens. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MEEL PATTHAR
Produktionsland
Indien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Jabberwockee Talkies
Regie
Ivan Ayr
Buch
Ivan Ayr · Neel Manikant
Kamera
Angello Faccini
Schnitt
Ivan Ayr
Darsteller
Suvinder Vicky (Ghalib) · Lakshvir Saran (Pash)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Glänzend fotografiertes Gesellschaftsdrama um einen erfahrenen indischen Trucker, der durch die jahrzehntelange Schufterei aber gebrechlich geworden ist und deshalb einen jungen Nachfolger anlernen soll.

Diskussion

„Jetzt hat er die 500.000-Kilometer-Marke erreicht!“ Der Mittfünfziger Ghalib (Suvinder Vicky) ist durchaus stolz auf „seinen“ LKW, auch wenn er sich als Angehöriger der indischen Arbeiterklasse keinen Illusionen hingebit, dass ihm ein derartiges Gefährt niemals gehören könnte, auch wenn es ihm über viele Jahre Lohn und Brot gesichert hat. Der erfahrene Trucker lässt sich von seinen wenig empathischen Chefs schon seit Ewigkeiten zu ebenso riskanten wie anstrengenden Tag- und Nachtfahrten verpflichten.

Als einziger Fahrer aus der alten Garde des sozial ungerechten Firmensystems hat Ghalib bislang stets irgendwie durchgehalten. Im Gegensatz etwa zu seinem Freund Dilbaug, der aufgrund seiner stärker werdenden Nachtblindheit und seiner Alkoholsucht vom aalglatten Juniorchef kurzerhand vor die Tür gesetzt wurde. Ghalib hat nie die Streikbemühungen seiner meist jüngeren Kollegen geteilt, auch nie die geringe Bezahlung oder die widrigen Arbeitsbedingungen angeprangert. Stattdessen absolvierte er Jahr für Jahr zuverlässig und meist unfallfrei unzählige Touren – bis er jetzt selbst erste Stiche im Kreuz verspürt.

Ein bewegendes Gesellschaftsdrama

Ghalibs stoischer, aber stets ausdrucksstarker Blick in die Ferne dient in „Milestone“ immer wieder als Projektionsfläche für den persönlichen Preis, den ihm die schreienden Ungerechtigkeiten des indischen Arbeitsmarktes abverlagen. Ghalibs physischer wie psychischer Zustand ist ähnlich ramponiert wie sein klobiges Transportungetüm. Aus und in dem Laster quietscht, rattert und stottert es schon länger, was nicht nur im übertragenen Sinne für seinen ebenso stolzen wie eigenbrötlerischen Fahrer gilt. Wird er noch weitere Berufsjahre durchhalten? Wie soll ihm das Geld im Alter reichen, wenn er mehr medizinische Hilfe braucht und sich keine Ehefrau um ihm kümmert?

„Warum hinkst du?“ – „Geht es dir wirklich gut?“- „Was machen deine Rückenschmerzen?“: Solche Fragen muss er sich vermehrt während des täglichen Ein-, Aus- und Umparkens im schlammig-dreckigen Innenhof anhören, der wortwörtlich auf unsicherem Boden steht.

Seit wenigen Tagen rollt dort gerade eine neue Agitationswelle mit rigiden Streikabsichten durch die verunsicherte Belegschaft. Für welche Arbeitskampffront soll Ghalib sich dieses Mal entscheiden, bevor er möglicherweise selbst nichts mehr zu entscheiden hat?

Fahrt ins Ungewisse

Über Nacht ist Ghalib überdies zum Witwer geworden; seine Frau Etali ist bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Oder war es Selbstmord? Doch auch noch diesen einschneidenden Schicksalsschlag wollte Ghalib unbedingt aus seinem Arbeitsumfeld heraushalten, um weder bei seinen Vorgesetzten noch bei den Kollegen Mitleid zu schinden. Nachdem er zu Hause einen Brief vor seiner Wohnungstür gefunden hat, besucht Ghalib wenig später sein Heimatdorf, um sich im Beisein des Ältestenrates gegen die Entschädigungsansprüche der Familie seiner toten Frau zu verteidigen.

Und noch ein weiteres Mal dreht sich die Schicksalsspirale unerbittlich weiter, als Ghalib auch noch ein junger Mann in den LKW gesetzt wird: Pash (Lakshvir Saran). „Der wird ab morgen bei dir mitfahren. Du kümmerst dich um ihn und bringst ihm alles bei, was er als Fahrer können muss“, befiehlt sein Vorgesetzter trocken. Dass Ghalib durch den unsteten Pash ersetzt werden soll, ist sofort spürbar. Schon am nächsten Morgen beginnt Ghalibs womöglich letzte Fahrt als Trucker; eine Fahrt ins Ungewisse.

„Milestone“ fungiere „als Beispiel für den Kampf eines Individuums um Relevanz in der heutigen indischen Gesellschaft“, erklärt Regisseur Ivan Ayr. Über den porösen Mikrokosmos des mit Suvinder Vicky glänzend besetzten Protagonisten skizziert Ayr in seinem nach „Soni“ zweiten Langfilm sehr plastisch die Widersprüche des zwischen Kastenwesen und Fortschritt zerrissenen Heimatlandes, das bittere Armut und soziale Ausgrenzung millionenfach duldet und durch seine brutal kapitalistische Ausrichtung gleichzeitig weiter implodiert.

Wo bleibt der Wert des Einzelnen im rauen Klima der neokapitalistischen Weltordnung? Der meist in den bedrohlich wirkenden Morgenstunden des nordindischen Winters und mit einer ausgefeilten Bildsprache in den Farben Blau und Grau realisierte Film (Bildgestaltung: Angello Faccini) ist jedoch nicht nur in politischer, sondern auch in ästhetischer Hinsicht ein echter Glanzpunkt.

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