Lift Like a Girl - Stark wie ein Mädchen

Dokumentarfilm | Deutschland/Ägypten/Dänemark 2020 | 95 Minuten

Regie: Mayye Zayed

In einem Viertel von Alexandria trainiert ein alter Mann seit zwei Jahrzehnten junge Frauen im Gewichtheben. Trotz materieller Armut und sozialer Anfeindungen kann er seine Schützlinge immer wieder zu Hochleistungen animieren, darunter eine 14-jährige Schülerin, die mit eisernem Trainingswillen ihre Chancen auf die Weltspitze vorantreibt. Im Direct-Cinema-Stil begleitet die humanistisch grundierte und hautnah fotografierte Langzeitbeobachtung vier Jahre lang die junge Sportlerin. Über dieses Porträt hinaus stellt der Film unterschwellig auch die Geschlechterrollen in Ägypten zur Disposition. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LIFT LIKE A GIRL | ASH YA CAPTAIN
Produktionsland
Deutschland/Ägypten/Dänemark
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Rufy's Film/Jyoti Film UG/Cleo Media
Regie
Mayye Zayed
Buch
Mayye Zayed
Kamera
Mohamed El-Hadidi
Musik
Marian Mentrup
Schnitt
Sara Abdallah
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Eine dokumentarische Langzeit-Beobachtung über eine talentierte junge Gewichtheberin und ihren kauzigen Trainer in einem heruntergekommenen Viertel der ägyptischen Metropole Alexandria.

Diskussion

Der ägyptische Moloch Alexandria am Mittelmeer gleicht mit seinen mehr als 5 Millionen Einwohnern schon lange keinem Weltwunder mehr. In hellenistischer Zeit standen hier der berühmteste Leuchtturm der Kulturgeschichte sowie die nicht minder bekannte erste Weltbibliothek. Vom kosmopolitischen Glanz Alexanders des Großen ist in „Captain“ Ramadans primitivem Trainingslager nirgendwo mehr etwas zu spüren. Seit zwei Dekaden trainiert der ehemalige Profi, der eigentlich Mahmud Ramadan Abdelmoati heißt, am Rande einer lauten, dreckigen Straße Legionen von Nachwuchssportlerinnen in der auch in Ägypten traditionell männlich dominierten Disziplin des Gewichthebens.

„Wir können kaum trainieren, der Boden ist total kaputt“, schreit er gleich zu Beginn empört in sein Handy. Dann stoppt seine rauchig-ruppige Stimme abrupt. Stattdessen spricht seine ausgemergelte Miene Bände. „Sie wollten doch helfen, Herr Direktor“, setzt der „Captain“ nach dem ersten Schock unerschrocken nach. Doch schon im nächsten Moment hat der Sportfunktionär am anderen Ende der Leitung forsch aufgelegt. Es gleicht oftmals einem Teufelskreis, in dem sich der humpelnde, aber energiegeladene Coach seit Jahren bewegt. „Ich habe hier vier Olympiasieger, neun Weltmeister, 17 Afrikameister! Die reinste Champion-Fabrik und keiner schaut mal vorbei“, raunt Abdelmoati mit gebrochenem Stolz in der Stimme.

Kampf gegen soziale Anfeindungen

So wie viele der lose herumliegenden Sportgeräte und Hanteln weiterrosten, so kämpft auch Mahmud Ramadan Abdelmoati innerlich gegen soziale Anfeindungen von außen, religiöse Sittenprediger und seine pure materielle Not im Nirgendwo der Millionenstadt. Ein einziger Jogginganzug ist ihm geblieben sowie eine durchgelegene Trainingsmatte. In dem eindrucksvollen Langfilmdebüt „Lift Like a Girl“ von Mayye Zayed ist er ein charismatischer Protagonist, der in einem Moment wieder ein verspielt-charmantes Kind sein kann, im nächsten aber auch ordentlich lospoltert, wenn ihm etwas gegen den Strich geht.

Die wenigen Sonnenblumensamen, die er besitzt, setzt er bei 40 Grad nicht etwa deshalb in den ausgedorrten Boden, um Monate später etwas Dekoratives für seinen wie aus der Zeit gefallenen Lebensmittelpunkt, eine Art innerstädtischen Schrottplatz, zu haben, sondern um die essbaren Kerne seinen gut 20 weiblichen Talenten als nährstoffreiche Sportlernahrung schenken zu können. Es sind kurze, einprägsame Szenen wie diese, die Zayeds präzise beobachtende und humanistisch grundierte Dokumentarfilmstudie in Form des Direct-Cinema-Stils dramaturgisch sinnvoll strukturieren und ihr zugleich ohne moralischen Zeigefinger eine sozialethische Dimension verleihen.

Darin fordert und fördert der „Captain“ unentwegt die ebenfalls sozial benachteiligten Schulmädchen aus der benachbarten „Abbary"-Mittelschule. Genauso wie eine Reihe junger Gewichtheberinnen, die gerade ihre Volljährigkeit erreicht haben und für deren Karrieren er sprichwörtlich sein letztes Hemd gibt. „Ich fange um fünf an. Jeder ist willkommen!“, ruft Mahmud wie elektrisiert den Straßenkindern für seine spezielle Mission als „Captain Future“-Sozialarbeiter zu, der trotz aller Widerstände nie ans Aufhören denkt.

Motivation als tägliches Brot

Improvisieren, Aufklären, Verteidigen und vor allem Motivieren ist Mahmud Ramadan Abdelmoatis tägliches Brot als Trainer wie als Mentor und Straßenpsychiater. Dazu benutzt der „Captain“ im Umgang mit minderjährigen Sportschülern nicht selten eine überaus harte, nur vereinzelt ironisch gebrochene Sprache voller Maskulinität („Hör zu, mein Junge!“) und Unverfrorenheit („Luder“), die bewusst aneckt. Trotzdem würde er niemals Jungen coachen, denn er kämpft im Kern seiner Arbeit entschieden um Gleichberechtigung und einen zeitgemäßeren Geschlechterdiskurs innerhalb der konservativen Strukturen Ägyptens. „Wenn du anständige Mädchen hast, kannst du nur gewinnen“, lautet sein Credo.

Auf der 14-jährigen Asmaa, die „Zebiba“ gerufen wird, ruhen derzeit seine größten Hoffnungen. Das etwa 50 Kilogramm schwere Mädchen mit Sehschwäche und „Popeye“-T-Shirt gilt als größtes Talent ihrer Generation. Bei Nachwuchswettkämpfen und nationalen Meisterschaften kann sie mit selbst gemachtem Guavensaft als Stärkung bereits 80 Kilogramm in die Höhe stemmen. Ähnlich eigenständig-eigensinnig wie ihr Coach reicht sie nicht jedem männlichen Preisrichter bei der Siegerehrung automatisch die Hand oder überhört schon mal demonstrativ provokative Zwischenrufe aus dem ebenfalls männlich dominierten Publikum.

Für ihren Trainer gehört sie auch jenseits erster sportlicher Erfolge zu Ägyptens wahren „Helden der Straße“, die sich durchbeißen und nie aufstecken, komme, was wolle. Zusammen träumt das ungleiche Gespann in naher Zukunft von einer ersten olympischen Medaille, bis die zwischenzeitlich 18-jährige Asmaa auf einmal allein am ersten Wendepunkt ihrer Karriere steht.

Ein Film über die Ägypterinnen von morgen

Ebenso hautnah wie schnörkellos und mit der Handkamera auf Augenhöhe gedreht, erzählt „Lift Like a Girl“ im Mikrokosmos einer talentierten Nachwuchssportlerin nichts weniger als den komplexen Gesellschaftsdiskurs in Ägypten zehn Jahre nach dem „Arabischen Frühling“. Ohne Off-Kommentar, Ortsangaben oder gesetzte O-Töne entfaltet sich in dieser hoch konzentrierten und über vier Jahre hin entstandenen Coming-of-Age-Geschichte im Grunde eine viel größere Dimension: Die Ägypterinnen von morgen werden sich nicht mehr unterjochen lassen. Denn sie haben Mut, sind wild entschlossen und haben reaktionär-patriarchalen Gesellschaftsclustern auch außerhalb der Wettkampfhallen längst den Kampf angesagt.

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