Kambura ist ein Ort des Vergessens. Die Patriarchen haben das kollektive Gedächtnis der kleinen Halbinsel ebenso überschrieben wie die offiziellen Niederschriften von Polizei und Justiz. Der Einzige, der sich noch erinnert, ist ironischerweise ein Mann mit Alzheimer.
Agâh Beyoğlu (Haluk Bilginer) hat Kambura vor langer Zeit verlassen. Der ehemalige Gerichtssekretär teilt seinen Ruhestand nur mit seiner Katze. Bis er vergisst sie zu füttern. Auf den Tod der Katze folgt ein weiterer Schock für den 65-Jährigen: Sein Arzt diagnostiziert Alzheimer im Frühstadium. Agâh verliert seine Erinnerungen. Vergessen aber will er nicht. So folgt Agâh dem Rat seines Arztes und probiert etwas Neues: Er mordet. Seine Opfer sind Männer aus Kambura. Er trifft sich mit ihnen, wird stets herzlich empfangen und zum Essen oder Trinken eingeladen, plaudert vergnügt, lacht mit ihnen, schwelgt in Erinnerungen – und tötet sie. Die dazu nötigen Waffen entwendet er aus einer Asservatenkammer, die er anschließend niederbrennt. Eine mit Porträts behangene Wand zeigt Agâhs Fortschritt: abgehakte Gesichter und Kussmund-Post-Its, auf denen „töten“ steht. Neben den Wänden seiner Altbauwohnung tragen auch die von der Mordkommission entdeckten Leichen den Schmuck von Agâhs „Arbeit“, je einen Etikettband-Spruch auf ihrer Stirn.
Die vergessene Gewalt gegen Frauen
Die auf den Verzierungen angesprochene Person ist Nevra Elmas (Cansu Dere), die erste und einzige Frau in der Istanbuler Mordkommission. Sie ist ausnahmsweise nicht der Prototyp einer toughen, kampfsporterprobten Superfrau, sondern die „Neue“, die neben dem dauerhaft in kleinen Tröpfchen herabprasselnden Sexismus der Kollegen auch gegen ihre eigene Verunsicherung zu kämpfen hat. Die Verbindung zwischen Nevra und Agâh ist nicht allein der über zwölf Episoden entknotete inhaltliche Fluchtpunkt der Serie, sondern erklärt auch ziemlich genau das Funktionsprinzip von „Ein guter Mensch“. Der mordende Alzheimer-Opa ist der Aufhänger, die von einer gesamten Gesellschaft immer wieder aufs Neue praktizierte und vergessene Gewalt gegen Frauen das eigentliche Thema.
Alzheimer steht als Krankheit nicht nur emblematisch für diese über Generationen weitergetragene patriarchale Vergessenskultur, sie schmiegt sich auch vorzüglich an filmische Gestaltungskonzepte an. Erinnerungslücken à la „Memento“ geben die Dramaturgie einer Folge vor oder werden vor oder während des Mords für Suspense genutzt. Wir kennen die Route, die Agâh vergessen hat, wissen, warum er wo auftaucht und wem er an die Kehle will. Jede Gedächtnislücke gefährdet Agâhs Mission und legt die nötige Anspannung unter die Serienmörder-Routine.
Vom Krimi hin zu Comedy, Camp und Soap
Allein das „Warum?“ hinter der Mordserie lässt Hakan Gündays Drehbuch lange verborgen. Mit viel Geduld werden die gut abgesteckten dramaturgischen Pfade der Serie immer wieder Richtung Comedy, Camp und Soap verlassen. Agâh tarnt sich im Niqab, ärgert sich über verspätete Handwerker, führt erbitterte Streitgespräche mit seiner kürzlich geschiedenen Tochter Zuhal (Şebnem Bozoklu) und ihrem Sohn Deva (Recep Usta) oder hält einen der langen Monologe, mit denen Günday und Regisseur Onur Saylak immer wieder Leitmotive in den Nebenplots und Abzweigungen etablieren. Die teils mit Animationen unterfütterten parabelhaften Ansprachen wirken oft allzu bemüht, klassische „Quality TV“-Topoi nachzuahmen. Die eigentliche Stärke von „Ein guter Mensch“ kommt dort ins Spiel, wo Witze, Running-Gags und das Familien-Melodrama dem gleichförmigen Hochglanz-Fernseh-Ansatz einen tief in Lokalkolorit getränkten Anstrich verpassen.
Dem gegenüber steht ein nicht weniger bunter 1980er-Look, der immer dann erstrahlt, wenn die Nacht über Istanbul hereinbricht, das Tempo zusammen mit den Beats des Soundtracks anzieht oder die Serie sich auf die eine oder andere Weise dem Neo-Noir annähert. Im ständigen Wechsel zwischen Jahrmarktbeleuchtung und den entsättigten Alltagsfarben legt Saylak die Wunden frei, die die Misogynie geschlagen hat: von den Sprüchen, die Nevra im Revier einstecken muss, dem Abhängigkeitsverhältnis, aus dem Zuhal auszubrechen versucht, bis zu den Gräueln der Vergangenheit, die Agâhs Mordserie lostreten. Jede Vergeltungstat bringt einen Teil der Erinnerung zurück, die den Frauen der Türkei, die Günday und Saylak porträtieren, wieder und wieder ins Gedächtnis gebrannt wurde.