Experimentalfilm | Mexiko 1968 | 97 Minuten

Regie: Alejandro Jodorowsky

Postapokalyptisches Stationendrama über ein Paar, das durch eine Ruinenlandschaft irrt und nach einer sagenumwobenen Stadt sucht. Der lose auf Motive des gleichnamigen Theaterstücks von Fernando Arrabal zurückgreifende Film stürzt die Protagonisten in merkwürdige, untereinander kaum verknüpfte Abenteuer und Prüfungen. Der chilenische Regisseur Alejandro Jodorowsky orientiert sich an surrealistischen Vorbildern, verbindet diese jedoch mit Formen eines filmischen „Theaters der Grausamkeit“, dessen Zutaten sich später auch in „El Topo“ (1971) und „Montana Sacra“ (1973) wiederfinden. Mit teils verspielten, teils drastischen Mitteln attackiert der Film aus dem Jahr 1968 die Doppelmoral in Religion, Politik und Familie und entwirft ein Gegenmodell des unbedingten künstlerischen Selbstausdrucks. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FANDO Y LIS
Produktionsland
Mexiko
Produktionsjahr
1968
Produktionsfirma
Producciones Panicas
Regie
Alejandro Jodorowsky
Buch
Alejandro Jodorowsky · Fernando Arrabal
Kamera
Rafael Corkidi · Antonio Reynoso
Musik
Hector Morely · Pepe Ávila · Mario Lozua
Schnitt
Fernando Suarez
Darsteller
Diana Mariscal (Lis) · Sergio Klainer (Fando) · Maria Teresa Rivas (Mutter) · Tamara Garina · Alejandro Jodorowsky (Puppenspieler/Gott)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Experimentalfilm | Literaturverfilmung
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Das Langfilmdebüt von Alejandro Jodorowsky: ein absurdes Stationendrama um einen Mann und eine Frau, die durch eine postapokalyptische Welt irren und nach einer mythischen Stadt suchen.

Diskussion

Ein Paar begibt sich auf die Reise durch postapokalyptische Szenerien und menschenfeindliche Landschaften, wobei der Mann die Frau auf einem wackeligen Gefährt hinter sich herzieht. Fando verspricht seiner gelähmten Braut, gemeinsam zur mythenumrankten Stadt Tar zu gelangen. Nur dort könne es für sie eine Heilung geben; auch alle anderen Probleme werden sich an jenem magischen Ort auflösen.

Der Weg ist beschwerlich, er führt durch zerstörte Ortschaften und Wüsten, über Friedhöfe und Müllhalden. Vor allem ist er von einem nicht endenden Panoptikum skurriler Figuren gesäumt, die sich den beiden Reisenden in den Weg stellen. So begegnen sie einer auf den Trümmern feiernden Upper-Class-Gesellschaft, einem lüsternen Bischof und einer Gruppe von lasziven Rachegöttinnen.

Fando und Lis zelebrieren ihrerseits seltsame Feste, blutige Rituale und ekstatische Happenings. Was es mit den Prüfungen und Abenteuern auf sich hat, bleibt ihnen verborgen. Zwar bewegen sie sich dabei unentwegt weiter voran, scheinen sich aber immer nur im Kreis zu drehen. Zuletzt schließt sich der Kreis ihrer eigenen, irdischen Existenzen. Fando legt sich neben die durch seine Hand gestorbene Lis, um selbst zu sterben. Ihm erscheint die Vision einer Wiederauferstehung: das Paar ist wieder miteinander vereint, beide sind nackt, eine Vision von Adam und Eva vor dem Sündenfall. Das Ende des Films verweist auf den Anfang der Menschheit – vielleicht einer besseren Menschheit.

Eine mythisch aufgeladene Antihelden-Reise

Bescheidenheit war nie die Sache des chilenischen Regisseurs Alejandro Jodorowsky. In seinem ersten Langfilm verkörpert er eingangs niemand Geringeren als Gott: einen Marionettenspieler, der vor den Augen der faszinierten Lis erst eine Puppe zum Tanzen bringt, dann deren Fäden zerschneidet und das Mädchen hinter die Bühne lockt. Für Lis beginnt damit der Weg in die Grausamkeit des Erwachsenwerdens. Sie wird „vom rationalen Verstand vergewaltigt, so wie jeder von uns von dieser Welt vergewaltigt wird“, wie der Regisseur später in einem Kommentar zu dieser Szene anmerkte.

Doch nicht Lis steht im Mittelpunkt des folgenden Geschehens. Sie bleibt bei der mythisch aufgeladenen Antihelden-Reise ihres Partners Fando eher passives Beiwerk. Er ist es, dem am Ende seines Leidenswegs eine Art Erlösung zuteilwird und durch die Begegnung mit dem Tod zu einer neuen Erkenntnisqualität durchdringt.

Denn die Stadt Tar, so begreift er, existiert nicht als ein Ort, der auf Landkarten geografisch bestimmt werden könnte. Tar befindet sich in ihm selbst, Tar ist das eigene Ich, das durch kulturelle, religiöse oder erzieherische Trümmer verschüttet wurde und mühselig erst wieder freigelegt werden muss. Fando verkörpert als leidende irdische Kreatur den höchstmöglichen Gegenentwurf zum göttlichen Prinzip (das Jodorwosky in augenzwinkernder Hybris eingangs selbst verkörpert). Fando gräbt sich regelrecht aus den Grüften seiner irdischen Existenz heraus; er muss sterben, um wiedergeboren werden zu können.

In dieser Hinsicht könnte „Fando y Lis“ als Therapieangebot interpretiert werden: als ein Versuch, Fremdbestimmungen zu überwinden und zur ureigenen Identität zurückzufinden.

Vieldeutiges Stationendrama

Die Rückeroberung der kindlichen Unschuld in einem schmerzhaften Erkenntnisprozess stellt bis heute ein Grundmotiv im Werk von Jodorowsky dar. Mit der „Psychomagie“ hat er sogar ein eigenes Modell zur seelischen Heilung entworfen. Sein Filmdebüt aus dem Jahr 1968 lässt viele Deutungen zu. Diese Vielschichtigkeit macht auch den Reiz aller seiner späteren Werke aus. Dramaturgisch heruntergebrochen und nüchtern betrachtet, handelt es sich bei „Fando y Lis“ um ein szenisch aufgefädeltes Nummernprogramm. Ganz im Sinne der von Sergej Eisenstein propagierten „Montage der Attraktionen“ stolpert die Handlung von Station zu Station und beschert den Zuschauern jede Menge Schaueffekte. Dem Affen wird immer wieder Zucker gegeben. Diese Methode übt zunächst einen großen Reiz aus, nutzt sich aber auch relativ schnell ab – eine Schwäche, die auch in anderen Filmen von Jodorowsky sichtbar wurde. Denn jene Konstruktion besteht ja – wie bei jedem anderen Road Movie auch – aus einer Reihung von Einzelepisoden, die über die Reise hinaus kaum miteinander verknüpft sind.

Man könnte hier sogar von einer Kurzfilmsammlung sprechen, deren Kapitel lediglich über die beiden Charaktere verbunden sind. Da sich diese im Verlauf der einzelnen Handlungsteile nicht wirklich verändern, wirken sie etwas statuarisch. Die große metaphysische Wendung zum Schluss muss man glauben wollen.

Subkultur und Surrealismus

Aber man glaubt sie gern! Denn mit welcher Verve Jodorowsky hier seine Visionen umsetzt, ringt auch mehr als 50 Jahre später noch nachhaltigen Respekt ab. Seine Unbedingtheit wirkt stets authentisch. Künstlerisch schöpft er einerseits aus der Vorlage von Fernando Arrabal, andererseits in starkem Maße aber aus sich selbst: aus seinen Straßentheater-Erfahrungen in Mexiko, aus der pantomimischen Arbeit mit Marcel Marceau oder der ausufernden, 1965 in Paris zelebrierten Bühnenperformance „Sacramental Melodrama“.

Daneben gibt es zahlreiche Hommagen an die Kulturgeschichte und an zeitgenössische Tendenzen der Subkultur. Die als „Gesänge“ überschriebenen Kapitel verraten die Verehrung für die Poesie Lautréamonts und für die von Ezra Pound. Im gesamten Gestus der Inszenierung waltet Antonin Artauds Forderung nach einem „Theater der Grausamkeit“.

Der intensivste Bezug bleibt jedoch der zum klassischen Surrealismus. Mehrere Szenen in „Fando y Lis“ erinnern an den ganz frühen Luis Buñuel, vor allem an „Das goldenen Zeitalter“ (1930). Und wohl nicht zufällig fungierte der Schnittmeister Carlos Savage beim Film als Berater – er hatte einst sämtliche mexikanische Regiearbeiten Luis Buñuels montiert.

Jodorowsky war jedoch alles andere als ein museal arbeitender Apologet; seine Ästhetik bewegte sich auf Augenhöhe der damaligen Zeit. Das puppenhafte Gebaren und die Maske von Lis scheinen auf Věra Chytilovás „Tausendschönchen“ (1966) zu verweisen, die peitschenschwingenden Erinnyen auf Russ Meyers „Faster, Pussycat! Kill! Kill!“ (1965). Doch handelt es sich hier eher um zufällige Analogien, die damals wohl einfach in der Luft lagen. Zurecht gekränkt reagierte der Regisseur auf Vorwürfe, sein Film hätte sich des Stils von Fellinis „Satyricon“ (1969) bedient – hatte er doch bereits 1966 mit den Dreharbeiten begonnen.

Künstlerische Vision vs. Filmwirtschaft

So wie sich in Jodorowskys Debütfilm zahlreiche Motive finden, die in seinen späteren Arbeiten (Filmen, Büchern, Comics) wiederauftauchten und weiterentwickelt wurden, so begann auch schon damals sein Pech mit der Filmwirtschaft. Nach der spektakulären Premiere auf dem Festival im mexikanischen Acapulco wurde der Film von der US-amerikanischen Cannon-Group aufgekauft, die den Schnitt veränderte, 13 Minuten entfernte und eine dümmlich wirkende englischsprachige Synchronisation anfertigte.

Immerhin sorgte der Skandal der Festivalpremiere für ausreichende Reputation, die zwei Jahre später die Produktion von „El Topo“ (1971) ermöglichte. Hatte „Fando y Lis“ noch lediglich 100.000 Dollar gekostet, standen ihm nun eine Million Dollar zur Verfügung. Bekanntermaßen wurde „El Topo“ dann in den USA zum Hit des Mitternachtskinos. Und Jodorowsky gelangte durch die Vermittlung von John Lennon an Allen Klein, der ihn zum „Cecil B. DeMille“ des Undergrounds aufbauen wollte. Nach den Dreharbeiten zu „Montana Sacra“ (1973) überwarfen sich die beiden jedoch, Klein entzog das bis dahin entstandene filmische Œuvre für mehr als 25 Jahre der Öffentlichkeit. Dadurch blieb auch „Fando y Lis“ lange Zeit unsichtbar. Es kursierten nur schlechte VHS-Mitschnitte. Es ist ein Glücksfall der Kinematografie, dass alle Filme Jodorowskys heute in guter Qualität wieder zugänglich sind. Der Meister selbst arbeitet mit über 90 Jahren indes unentwegt an seinem Lebenswerk weiter.

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