Drama | Niederlande/Belgien/Italien 2018 | 105 Minuten

Regie: Ben Sombogaart

Ein Tunesier versucht auf allen denkbaren Wegen, zu seiner schwangeren Frau in die Niederlande zu gelangen, während diese immer wieder bei den Behörden gegen Betonwände anrennt. Da ihr Mann kein Visum erlangen kann, scheint ihm nur der Weg über das Mittelmeer zu bleiben. Ein als Romanze verkleidetes Flüchtlingsdrama, das nachhaltig aufwühlt, obwohl es mit genretypischen Erzählmustern und Klischees operiert. Der auf wahren Begebenheiten basierende Film übersetzt das von nüchternen Zahlen oftmals versperrte menschliche Leid, das mit einer Flucht einhergeht, in eine emotional mitreißende transkulturelle Liebesgeschichte. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
RAFAËL
Produktionsland
Niederlande/Belgien/Italien
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Rinkel Film/EO/Menuet Prod./Nukleus film
Regie
Ben Sombogaart
Buch
Tijs van Marle · Massimo Gaudioso
Kamera
Jan Moeskops
Musik
Hannes De Maeyer
Schnitt
David Verdurme
Darsteller
Melody Klaver (Kimmy) · Nabil Mallat (Nazir) · Mehdi Meskar (Rafaël)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
EZEF (16:9, 2.35:1, DD5.1 niederl. & engl. & ital. & arab.)
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Ein Flüchtlingsdrama um einen Mann aus Tunesien, der auf allen denkbaren Wegen zu seiner schwangeren Freundin in den Niederlanden zu gelangen versucht.

Diskussion

Auf dem Rücksitz des Taxis, das in einem ausgedörrten sizilianischen Tal über eine einsame Straße braust, liegt eine hochschwangere Frau. Als der Wagen schon fast am Horizont verschwunden ist, stürzt ein Mann auf die Fahrbahn. Verzweifelt winkt er dem Taxi hinterher. Der Fahrer sieht das im Rückspiegel, aber er hält nicht an. Das Auto verschwindet hinter einer Bergkuppe. Der Vater des ungeborenen Kindes bricht in Tränen aus. Die Musik weint im Off mit ihm mit. Doch dann kehrt das Auto zurück, und der Soundtrack verändert die Tonlage.

Diese ergreifende, wenngleich vorhersehbare Szene veranschaulicht exemplarisch, wie „Rafaël“ von Ben Sombogaart funktioniert: als drangvolles Genrekino im Balanceakt zwischen Gefühl und Klischee. „Basierend auf wahren Begebenheiten“ ist im Vorspann zu lesen. Eine Formulierung, die gemeinhin darauf hindeutet, dass ein Werk eben nicht versucht, ein konkretes Geschehen wahrheitsgetreu abzubilden, sondern stattdessen aus historischem Material eine eher allgemeingültige Botschaft modellieren möchte. In „Rafaël“ ist das die Flüchtlingskrise. Das Drama endet damit, dass Kimmy, eine der beiden Hauptfiguren, aus den 30 Artikeln der UN-Menschenrechtserklärung vorliest, nachdem der Film zuvor eindringlich vorgeführt hat, wie diese Rechte in den Flüchtlingslagern, aber auch den Konsulaten und EU-Behörden mit Füßen getreten werden.

Eine transkulturelle Liebesgeschichte

Die Romanvorlage der Niederländerin Christine Otten nennt sich im Untertitel „een liefdesgeschiedenis“, eine Liebesgeschichte. Im Mittelpunkt steht ein frisch verheiratetes Paar, das in den Wirren des Arabischen Frühlings 2011 voneinander getrennt wird. Als die Niederländerin Kimmy und ihr tunesischer Ehemann Nazir angesichts der gewaltsamen Unruhen in Tunesien, wo Nazir mit Rafaël zusammen eine kleine Strandbar betreibt, in ihre Heimat ausreisen möchten, erhält Nazir kein Visum, da die Heiratsurkunde offenbar nicht registriert wurde. Also fliegt die schwangere Kimmy vorläufig allein in ihre Heimat, im Glauben, dass Nazir bald nachkommen könne. Daraus wird jedoch nichts.

Die Mühlen der Einwanderungsbürokratie mahlen unerträglich langsam, wenn überhaupt. Um irgendwie trotzdem zu seiner Liebsten und rechtzeitig zur Geburt seines Kindes zu kommen, entschließt sich Nazir gemeinsam mit Rafaël zur Flucht über das Mittelmeer. Sie schaffen es in das überfüllte, mit Stacheldraht abgesperrte Lager auf Lampedusa, wo Männer unerbittlich von Frauen und Kindern getrennt und Familien brutal auseinandergerissen werden. Hoffnung keimt auf, als ein Wärter ihnen verspricht, dass sie mit dem Flugzeug nach Mailand gebracht würden, wo sie ein Visum beantragen könnten. Stattdessen werden sie mit Kabelbindern fixiert und nach Tunesien abgeschoben. Bald machen sich Nazir und Rafaël ein zweites Mal auf den Weg. Diesmal kentert das überladene Schlauchboot, und Rafaël ertrinkt.

Während Nazir zunehmend resigniert und verwahrlost, kämpft die hochschwangere Kimmy unermüdlich um die Anerkennung der Heirat und ein Visum für ihren Mann. Als sie nach Lampedusa reist und im Lager mit Wärtern aneinandergerät, werden die Medien auf sie aufmerksam. Die Journalistinnen und Reporter formieren sich zur Schutzmacht gegen die Willkür der Lagerbetreiber. Kimmys Geschichte geht um die Welt.

Keine „Verbrecher“, nur ein Liebespaar

In einer niederländischen Talkshow, in der sie von einem hochrangigen Politiker dieselben leeren Versprechungen zu hören bekommt, mit denen sie schon seit Monaten überall abgespeist wurde, entlädt sich ihre Wut in einem hochemotionalen Ausbruch, mit dem sie nicht nur das Herz ihrer bislang reservierten Mutter erweicht, sondern auch das vieler Zuschauer. Sie seien doch keine Verbrecher, schluchzt Kimmy, sondern nur ein Liebespaar, das endlich wieder zusammen sein möchte.

Das ist eine durchaus heikle Aussage. Denn sie könnte suggerieren, dass die anderen Flüchtlinge, die nicht mit EU-Bürgern verheiratet sind, ebensolche Verbrecher seien. Tatsächlich aber zielt „Rafaël“ auf das Gegenteil. Kimmys Wohlstandsperspektive soll dem Publikum in den Fluchtzielländern die Identifikation erleichtern, um so die Empathie über den außergewöhnlichen Einzelfall hinaus auf alle Flüchtlinge auszudehnen.

Hinter Zahlen treten Schicksale hervor

Die Liebeshandlung gleicht dabei der „unerhörten Begebenheit“ einer Novelle. Rafaël, der nie über die Rolle eines klischeehaft charmant-südländischen Sonnyboys hinauswächst und selbst im Flüchtlingslager noch die freiwilligen Helferinnen anbaggert, verkörpert das Leitmotiv, den „Falken“. Doch so durchschaubar das auf den zweiten Blick auch sein mag, es funktioniert. Die Geschichte berührt. Die im Hafen aufgebahrten Leichname erhalten Namen und Gesichter. Hinter den anonymen Zahlen treten Menschen hervor.

„Rafaël“ ist ein von einer fast kitschigen Liebesromanze umhülltes Flüchtlingsdrama. Angefüllt mit stereotypen Charakteren und inszeniert mit dem groben Handwerkszeug symbolträchtiger Kontrastmontagen, die zwischen stilvoll möblierten niederländischen Altbauwohnungen und verschlammten italienischen Flüchtlingslagern, zwischen trister Barackengegenwart und dem sonnendurchtränkten Strandbar-Idyll der Vergangenheit hin- und herwechseln. Ein zartbitterer Genrefilm, der einen aber emotional derart zu packen vermag, das alles in einem gegen die unerträglichen Zustände rebelliert, von denen er erzählt.

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