Dokumentarfilm | Deutschland/Polen 2020 | 97 Minuten

Regie: Andreas Voigt

Dreißig Jahre nach seinem ersten „Grenzland“-Film nähert sich der Dokumentarist Andreas Voigt erneut dem deutsch-polnischen Grenzgebiet an Oder und Neiße, dessen Bewohnern und Landschaften. In seinen knappen biografischen Porträts interessiert er sich für Auf- und Umbrüche, beobachtet vorwiegend Menschen in Bewegung, sucht in deren Geschichten nach historischen und politischen Zusammenhängen. Dabei werden Spuren jener Verwerfungen sichtbar, die sich sowohl vom Ende des Zweiten Weltkrieges als auch vom Ende der DDR bis in die Gegenwart ziehen. Der Film verzichtet auf einen Autorenkommentar und verlässt sich auf atmosphärische Bilder und behutsame Interviews. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
GRENZLAND
Produktionsland
Deutschland/Polen
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
a jour Film/Barbara Etz Filmprod./Nordfilm/rbb/mdr
Regie
Andreas Voigt
Kamera
Maurice Wilkerling · Marcus Lenz
Schnitt
Ina Tangermann
Länge
97 Minuten
Kinostart
08.07.2021
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dreißig Jahre nach seinem ersten „Grenzland“-Film nähert sich der Dokumentarist Andreas Voigt erneut dem deutsch-polnischen Grenzgebiet an Oder und Neiße, dessen Bewohnern und Landschaften

Diskussion

Schon vor dreißig Jahren hatte sich Andreas Voigt für Leute und Landschaften an der deutsch-polnischen Grenze interessiert: Sein Film „Grenzland – Eine Reise“ (1991/92), eine der letzten Dokumentarfilmproduktionen der DEFA, porträtierte Menschen auf beiden Seiten von Oder und Neiße und beschrieb ein Universum zwischen existentiellen Unsicherheiten, dem Verlust von Idealen und der Zuversicht auf eine Besserung der Verhältnisse. Es waren Momentaufnahmen kurz nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems, die sich zu einem Gesellschaftsbild fügten: Zu sehen ist auf deutscher Seite unter anderem der Manager einer Nachtbar, der über die „Lieferung“ osteuropäischer Stripperinnen plaudert, oder ein altes Ehepaar aus dem Westen, das mit einem Campingwagen Urlaub am Ufer des Flusses macht und mit dem Fernglas das Heimatdorf des Mannes beobachtet, das seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu Polen gehört. Auf polnischer Seite wird unter anderem ein Schiffer gezeigt, der über den Reichtum der Industrienationen und die verhungernden Kinder in Afrika nachdenkt und seine Sicht auf die Dinge in dem Satz zusammenfasst: „Die Welt ist in einem schrecklichen Zustand.“ Voigt verdichtete Vergangenheit und Gegenwart, Provinz und Welt zu einer eindrucksvollen Studie.

Wo Bäume aus den Fenstern wachsen

„Grenzland“, der neue Film, zitiert nur einmal, und dann auch nur kurz, ein paar Bilder seines Vorgängers. Damit erzählt Voigt die Biografie der Arbeiterin Carla aus dem Chemiefaserwerk Guben weiter. Carla, die in „Grenzland – eine Reise“ zu sehen war, wie sie Webdraht von einer Spule kratzt und darüber redet, dass es immer noch besser sei, das einst Geschaffene in Abfall zu verwandeln, als untätig zu Hause zu sitzen. Im neuen Film ist sie aus Guben weggegangen, nach drei Jahren Arbeitslosigkeit. Voigt hat sie nun in Niedersachsen wieder getroffen, wo sie Automaten in einem Spielcasino säubert: „Da, wo ich gelernt habe, in der Gubener Wolle, wachsen Bäume aus den Fenstern.“ Auch hier verzichtet der Regisseur, wie im gesamten Film, auf einen Autorenkommentar; er fragt behutsam nach, lässt Zeit zum Antworten, nimmt sich die Ruhe, um Atmosphärisches zu erkunden.

Voigt konstatiert einen Verlust an Heimat und Gemeinschaft. Einen Aufbruch, ohne angekommen zu sein. Carlas seltene Treffen mit alten Freundinnen, die Nachmittage im Gubener Kleingarten bei Rotkäppchen-Sekt und Zigaretten, die preiswert in Polen gekauft wurden, sind dann wie Ankerplätze in einem Meer erzwungener Beliebigkeit.

Zu neuen Ufern

Es ist nicht nur Carla, die auf Wanderschaft gegangen ist und ihr Leben auf neue Gleise setzen musste. Viele der Interviewten in „Grenzland“ sind zu neuen Ufern aufgebrochen, stehen kurz davor – oder fühlen sich dazu nicht mehr in der Lage. Der Film konstatiert Veränderung durch Bewegung, so wie im Fall der australischen Familie, die sich auf polnischer Seite des Grenzflusses niedergelassen hat und auf dem neu erworbenen Land nach Spuren deutscher Geschichte forscht. Polen, so sagen die Australier, erinnere sie an ihre eigene Heimat: Hier gäbe es ein Gefühl von Freiheit, Wildheit, Energie. – Später wird Voigt sich mit einer 19-jährigen polnischen Studentin treffen, die kurz vor dem Aufbruch zum Studium nach Sheffield steht und die aktuelle polnische Politik heftig kritisiert: Vielen jungen Leuten gefalle es nicht, wie das Recht auf Meinungsfreiheit, persönliche Freiheit, die eigene Sexualität beschnitten werde. Mit ihren Freundinnen feiert sie Abschied: „Komm, wir fliegen, und lass die Wolken hinter Dir“, singen die jungen Frauen und blicken in den Himmel: wieder ein Aufbruch, und ob es eine Rückkehr geben wird, ist nicht sicher.

Eine Art kleines Welttheater

Voigt baut ein Kompendium aus einzelnen, voneinander zunächst unabhängigen Begegnungen, die dann, in der Gesamtschau, eine Art kleines Welttheater ergeben. Da ist der Werkzeugmacher aus Hoyerswerda, der von einer Parkbank aus dem Abriss von Wohnblöcken aus DDR-Zeiten zuschaut: Die Stadt ist von 70.000 auf 30.000 Einwohner geschrumpft; die Industrie wurde auf ein Minimum reduziert, blühende Grasflächen statt blühenden Lebens. – Da ist der junge Syrer, der bei einem Autolackierer arbeitet und sich gemeinsam mit kurdischen Freunden eine eigene Wohnung ausbaut. Später wird er sein Auto mit einem NPD-Graffiti vorfinden: Wie lange wird er es aushalten, als Fremder feindseligen Attacken ausgesetzt zu sein? – In Polen trifft Voigt auf Eleni, die Tochter eines Griechen, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Kommunist aus seiner Heimat vertrieben wurde und in Polen ein neues Zuhause fand. Als Exilort für die Griechen wurde ein verlassenes deutsches Dorf bereitgestellt. – Und da ist Zofia, die 1945 aus dem heutigen Weißrussland hierherkam: Die Bohnen, die ihre Eltern im hiesigen Garten vorfanden, damals noch von Deutschen gepflanzt, werden von Jahr zu Jahr neu ausgesät. Überall Geschichte, die in Gegenwart und Zukunft einfließt.

Einmal beobachtet Voigt eine Zeremonie auf einem polnischen Soldatenfriedhof. Katholische Würdenträger segnen die Gräber. In seiner Predigt feiert der Bischof zwar den Heldenmut der polnischen Soldaten beim Überqueren der Oder im April 1945, erwähnt aber mit keiner Silbe die Rote Armee. Denn die Russen sind in Polen ja das neue Feindbild... Wieder werden historische Zusammenhänge ausgeblendet und aktuellen propagandistischen Zwängen geopfert. Mit solchen Szenen belegt „Grenzland“, dass wir keinesfalls am Ende der Geschichte angekommen sind – wie das gelegentlich nach dem Ende der Systemkonfrontation 1990 behauptet wurde –, sondern mittendrin in neuen Verwerfungen, Konflikten, Sehnsüchten und Hoffnungen.  

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