Drama | Großbritannien 2020 | 409 (128,70,80,66,63) Minuten

Regie: Steve McQueen

Fünfteiliger Anthologiefilm über Erfahrungen der afro-karibischen Einwanderer-Community in Großbritannien von den 1960er-Jahren bis in die 1980er-Jahre. Handlungsort sind die einstigen Arbeiterviertel Londons, wo auch die meisten Migranten aus der Karibik lebten. Die fünf Folgen erzählen über markante Figuren von strukturellen Diskriminierungen und vom Rassismus, den die schwarzen Bewohner von Vierteln wie Notting Hill und Brixton erfahren, aber auch vom mühsamen Emanzipationsprozess, der den Protagonisten der Filmreihe schließlich neue Perspektiven ermöglicht. Analytisch scharf und emotional warmherzig verschafft das Sozialdrama einer bisher filmisch unterrepräsentierten Community Geltung. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SMALL AXE
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
BBC/Turbine Studios/Lammas Park/EMU Films/Amazon Studios
Regie
Steve McQueen
Buch
Steve McQueen · Courttia Newland · Alastair Siddons
Kamera
Shabier Kirchner
Musik
Mica Levi
Schnitt
Chris Dickens · Steve McQueen
Darsteller
John Boyega (Leroy Logan) · Sheyi Cole (Alex Wheatle) · Letitia Wright (Altheia Jones) · Malachi Kirby (Darcus Howe) · Shaun Parkes (Frank Crichlow)
Länge
409 (128,70,80,66,63) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f (Ep.1,3-5) & ab 16; f (Ep.2)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Serie
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Verleih DVD
Polyband
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Fünfteilige Anthologie von Steve McQueen über afrokaribische Einwanderer in Großbritannien.

Diskussion

Er ist ein begabter Junge, der von den Sternen träumt, und doch wird er von den herrschenden Verhältnissen jäh auf den deprimierenden Boden der Tatsachen geholt. Kingsley liebt es, beim Schulbesuch im Observatorium mehr über die Geheimnisse des Weltraums zu erfahren. Sternenkarten hängen über dem Bett des 12-Jährigen. Nicht nur nachts, wenn er schläft, träumt er davon, später einmal Astronaut zu werden. Doch ein Schulkamerad zerschmettert mit einem hässlichen Satz Kingsleys Traum: „Schwarze können doch nicht Astronaut werden!“, fährt der weiße Mitschüler den Jungen an.

Kingsley ist eines dieser Kids, die es in vielen Klassen gibt. In der Schule versagt er nicht, weil er vom Unterricht überfordert ist, sondern weil seine Lehrer:innen daran scheitern, in dem Jungen eine Faszination für das dort vermittelte Wissen zu wecken. Außerdem hat der oftmals renitente Junge eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Die Schulleitung empfiehlt schließlich, den Jungen auf eine Sonderschule zu schicken – ein Schicksal, das neben Kingsley viele Einwandererkinder in Großbritannien ereilt hat.

Die einstigen Kolonialverhältnisse prägen noch immer den Alltag

Es sind systematische, institutionell verankerte Formen der Diskriminierung, wie jene des schwarzen Jungen Kingsley, von denen Steve McQueen in den fünf Episoden seines Anthologiefilms „Small Axe“ erzählt. Der Handlungszeitraum der filmischen Episoden erstreckt sich über zwei Jahrzehnte, von Mitte der 1960er- bis in die 1980er-Jahre. Handlungsort sind die damaligen Arbeiterviertel der Hauptstadt London. McQueen erzählt in „Small Axe“ durchgehend aus der Perspektive der karibischen Community, einer Gruppe von Einwanderern, die nach dem Zweiten Weltkrieg in großen Zahlen ins Königreich kamen.

Die einstigen Kolonialverhältnisse prägen noch immer den Alltag in Großbritannien. Zum Zeitpunkt der Erzählung treten die rassistischen Verhältnisse im Alltag der Menschen offen zutage. So auch im ersten, „The Mangrove“ betitelten Teil der fünf Erzählabschnitte. Er handelt von einem Restaurantbesitzer (Shaun Parkes), dem es mit seinem Laden in Notting Hill – damals ein Glasscherbenviertel – gelingt, eine Anlaufstelle für sämtliche Karibik-Stämmige in der Umgebung zu werden. Das Mangrove ist erfüllt von afro-karibischen Klängen, die die Einwanderer mitgebracht haben, den Düften der hingebungsvoll zubereiteten Gerichte und den lebendigen Geschichten der Besucher:innen, die täglich ins Lokal des Besitzers Frank strömen. Doch das Mangrove wird schnell zur Zielscheibe rassistischer Polizeimaßnahmen. Besitzer Frank erlebt die Schikane täglich am eigenen Leib. Die Gesetzeshüter unterstellen dem Geschäftsmann, seine Räumlichkeiten dem organisierten Verbrechen zur Verfügung zu stellen, gegen die Ausschanklizenz zu verstoßen und ähnliche konstruierte Vorwürfe mehr. Mehrfach demolieren sie die Inneneinrichtung des Lokals. Als es im Viertel zu Demonstrationen gegen die rassistisch bedingte Willkür der Polizei kommt, ist auch Frank dabei. Gemeinsam mit anderen Demonstrierenden wird er verhaftet.

Mit erzählerischer Akribie und politischem Feingefühl

Der Rest des Filmes erzählt von dem Gerichtsverfahren, das in die britischen Geschichtsbücher unter dem Fall der „Mangrove Nine“ eingegangen ist. Der Prozess ist Ausgangspunkt für den beginnenden Emanzipationsprozess der afro-karibischen Immigrant:innen, den McQueen im Fortgang seiner „Small Axe“-Filme mit großer erzählerischer Akribie, politischem Feingefühl und ästhetischem Gestaltungswillen schildert. Immer wieder sind es Rhythmus und Melodien karibischer Klänge, aber auch die von Soul, Reggae und zeitgenössischer britischer Musik, die die Bewegungen der Kamera zu inspirieren scheinen.

In der Episode „Lovers Rock“ ist der Handlungsort eine Hausparty in Notting Hill, wo wir den Protagonist:innen (u.a. gespielt von Micheal Ward und Amarah-Jae St. Aubyn) durch Höhen und Tiefen einer langen Partynacht folgen. Die Kamera schleicht und schweift zwischen den Gästen der Feier umher, wie auf einen ungeahnten Punkt zu, an dem die Stimmung kippen und alles eskalieren könnte. Titelgebend ist die Reggae-Stilrichtung Lovers Rock, die sich in den 1970er-Jahren von Großbritannien aus entwickelte. Steve McQueen, der erste schwarze Regisseur Hollywoods, der einen „Oscar“ gewann (für „12 Years a Slave“), bezeichnet diese Folge seines Fünfteilers als „mein Musical“. Die ganze Atmosphäre der Episode ist getragen vom aufgeregten Gefühl der Protagonistin, die sich aus dem Elternhaus heimlich davonstiehlt, um in der Nacht den seltsamen Eskapaden der Jugendlichen auf der Tanzfläche beizuwohnen.

Autobiografisch und nostalgisch aufgeladen, ohne zu verklären

Es würde einen nicht wundern, wenn McQueen selbst einmal Gast auf eben solch einer Party war. Und wenn auch nur als schüchterner Beobachter, abseits des Dancefloors. Der 1969 Geborene ist selbst das Kind karibisch-stämmiger Einwanderer. Und so zeigt sich auch jede Szene seiner „Small Axe“ als hochpersönliche Erzählung. Autobiografisch und nostalgisch aufgeladen, ohne die Zeiten des Großwerdens leichterhand zu verklären. Dafür waren die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten jener Zeit auch viel zu unerträglich und gravierend.

Die verkörperte Essenz der Verhältnisse zeigt sich im Schauspieler John Boyega in seiner Rolle als erster schwarzer Cop einer Londoner Polizeieinheit. Voller Schmerz und Würde trägt er die Orden seiner Uniform, Symbol seiner Leistung, „es geschafft zu haben“. Doch was heißt dieses Geschafft-Haben, wenn einen die Kolleg:innen weiter schneiden und im Zweifelsfall, wenn es brenzlig wird, hängenlassen? Sein Vater (Steve Toussaint) ist ohnehin gegen die Laufbahn des Sohnes in den Reihen der Polizeiangehörigen, die ihn einst schwer misshandelt haben. Der von Boyega verkörperte Leroy tritt an, um eine Brücke von den Sicherheitskräften zur jamaikanischen Community zu schlagen, der er entstammt. Zwischen den beiden Loyalitäten droht es den jungen Mann schier zu zerreißen.

Am Ende gelangen wir schließlich zur Geschichte von Kingsley, dem Jungen aus einfachem Haushalt, der von den Sternen träumt und für den sein Alltag doch nur Hindernisse parat hat. Sein Schulleiter legt dar, dass der IQ des Jungen angeblich nicht hoch genug sei für den weiteren Besuch einer Regelschule. In der Sonderschule geht Kingsley dann vor Entmutigung beinahe zu Grunde, wären da nicht zwei engagierte junge Frauen, die an Kingsley und Kinder wie ihn glauben.

Ein moderner Dickens der schwarzen Community

„Small Axe“ erzählt von den alltäglichen Demütigungen, den Beleidigungen und Schlägen wie Tritten, die seine schwarzen Protagonist:innen in der weißen britischen Mehrheitsgesellschaft einstecken, das vielschichtige Drama erzählt aber auch vom Emanzipationsprozess und Empowerment der Eingewanderten, das sich mit der Hinwendung zu den eigenen historischen Wurzeln, einer Black History, vollzieht. Im Fall des Jungen Kingsley ist es eine Samstagsschule, organisiert von der migrantischen Community, die dem Jungen schließlich eine Perspektive zurück zu seinen Träumen aufzeigt.

Steve McQueen widmet sich in seinem äußerst fein durchkomponierten Sozialdrama mit analytischer Schärfe den sozialen Gegebenheiten der britischen Gesellschaft und mit intellektueller Wärme seinen Charakteren, deren Schauspieler:innen es gelingt, einer im Kino- und TV-Maßstab bisher völlig unterrepräsentierten Community Geltung zu verschaffen. In diesem sensationell guten Fernsehdrama zeigt sich Steve McQueen als ein moderner Dickens im cineastischen Gewand.

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