Dokumentarfilm | Schweiz/Italien 2020 | 80 Minuten

Regie: Michele Pennetta

Unter der sengenden Sonne Siziliens muss ein von seinem Vater gepiesackter Junge aus einer zusammengewürfelten Familie nach Altmetall suchen, während ein junger afrikanischer Migrant Schafe hütet oder bei der Weinlese schuftet. Mit beeindruckenden, auch symbolisch aufgeladenen Bildern begleitet der halbdokumentarische, an den Neorealismus anknüpfende Film zwei Heranwachsende unterschiedlicher Herkunft durch ihre oft einsamen Tage und schildert ungeschönt Lebensumstände, Befindlichkeiten und bescheidene Zukunftsaussichten. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
IL MIO CORPO
Produktionsland
Schweiz/Italien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Close Up Films
Regie
Michele Pennetta
Buch
Michele Pennetta · Arthur Brügger · Christian Tarabini
Kamera
Paolo Ferrari
Musik
Nathalie Rebholz
Schnitt
Damian Plandolit · Orsola Valenti
Länge
80 Minuten
Kinostart
18.08.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD5.1 ital.)
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Unbeschönigte Schilderungen der Lebensumstände und Zukunftsaussichten zweier Jugendlicher unterschiedlicher Herkunft auf Sizilien.

Diskussion

Oscar zieht Tag für Tag mit seinem Bruder und seinem Vater los, um unter der sengenden Sonne Siziliens auf abgelegenen Halden, verlassenen Höfen, in ehemaligen Schwefelminen oder auch schlicht am Straßenrand nach Brauchbarem zu suchen. Einmal findet er unter einer Brücke eine Marienstatue, ein andermal eine rostige Pistole. Wertvoll daran ist vor allem das Altmetall, das er an den Schrotthändler weiterverkaufen kann.

Wie ein Kühlschrank oder andere große Fundstücke wird auch die Madonna mit einem Flaschenzug zur Straße hochgezogen. Bei ihrem Lift nach oben hebt sich die Statue strahlend vom Blau des Himmels ab. Es sind beeindruckend schöne, symbolisch aufgeladene Bilder, die lange nachwirken.

Eine Trilogie über das ländliche Sizilien

„Il mio corpo“ von Michele Pennetta ist der letzte Teil einer Trilogie, die sich mit Sizilien und dessen Bewohnern auseinandersetzt. Der erste, nur 37 Minuten lange Teil „‘A iucata“ (2013) drehte sich um illegale Pferderennen. In „Pescatori di corpi“ (2016) folgte Pennetta dem Fischerboot „Alba Angela“, dessen Besatzung auf dem Meer heimlich nach Flüchtlingen Ausschau hält, wobei es auch um den Syrier Ahmed geht, der selbst über das Meer kam und auf der „Alba Angela“ ein illegales Dasein fristet.

Im Zentrum von „Il mio corpo“ stehen Oscar und seine zusammengewürfelte Familie. Sein Vater Marco ist ein Mann von aufbrausendem Temperament, der bisweilen die Beherrschung verliert. Oscars Bruder Roberto ist ein wenig älter als Oscar und wird vom Vater bevorzugt. Die Mutter ließ ihre Söhne und ihren Mann vor Jahren im Stich. Marco hat zwischenzeitlich eine andere Partnerin gefunden, die selbst auch Kinder hat. Ob sie Robertos und Oscars Halb- oder Stiefgeschwister sind, lässt der Film offen, wie vieles andere auch, das nur angedeutet wird, aber nie eine Bestätigung findet.

Wichtig sind Oscars Verhältnis zum Vater und die Spannungen zwischen dem Vater und seinen Söhnen. Eine längere Sequenz kreist um einen Streit, in dem der Vater das Gespräch auf eine Vorladung bringt, bei der er sich Anschuldigungen stellen soll, die Oscar und Roberto gegenüber einer Sozialfürsorgerin gemacht haben sollen. Marco sei gewalttätig gewesen und anderes mehr, doch auch das erfährt man nicht so genau. Der Ton des Vaters im Umgang mit seinen Söhnen ist allerdings immer herablassend und grob; was er sagt, wirkt oft latent drohend. Wenn Marco sich vergisst, droht er damit, seinem Sohn einen Stein an den Kopf zu werfen, falls dieser ihm weiterhin widerspricht.

Von der Hand in den Mund

Das ist ziemlich unschön, aber Teil eines größeren Settings, das die Situation einer Familie zeigt, die von der Hand in den Mund lebt, wobei insbesondere die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen geschildert wird, die statt zur Schule zu gehen fürs Einkommen der Familie sorgen müssen.

Oscar reagiert auf die Schimpftiraden und Wutausbrüche seines Vaters meist mit Schweigen. Darin ähnelt er dem zweiten Protagonisten von „Il mio corpo“, dem Nigerianer Stanley. Stanley ist einige Jahre älter als Oscar; er ist mit dem Boot übers Meer geflüchtet und darf sich offiziell einige Monate lang auf Sizilien aufhalten. Er steht unter der Aufsicht eines katholischen Paters. Der lässt ihn die Kirche putzen und schickt ihn auf einen Bauernhof, wo er bei der Weinlese hilft. Später bringt der Pater Stanley aufs Land, damit er bei einer stillgelegten Mine Schafe hüte.

Pennetta erzählt die Geschichten von Oscar und Stanley unabhängig voneinander, aber parallel. Während der Dreharbeiten hatte Pennetta die Tage abwechselnd mit dem einen und dann mit dem anderen Hauptdarsteller verbracht. Gefilmt wurde, wenn sich die Gelegenheit bot.

Einsame Menschen, verlassene Gegenden

Im Grunde genommen erzählt „Il corpo mio“ auch keine Geschichte. Vielmehr schildert der Film Zustände und Befindlichkeiten, wobei er auch die in die sonnenversengt-karge Landschaft Siziliens eingeschriebene Stimmung der Verlassen- und Verlorenheit einfängt. Sowohl Oscar, der sich im Laufe des Films immer mehr von seinem Vater zurückzieht, wie auch Stanley, dessen WG-Genosse nach der Ablehnung seines Aufenthaltsgesuchs spurlos aus Stanleys Leben und Pennettas Film verschwindet, sind tief einsame Menschen.

Die Inszenierung setzt auf vorgefundene Situationen und Zufälle, aber auch auf die Spontaneität der Darsteller. Die treten im Film unter ihren Namen auf und spielen sozusagen sich selbst. „Il corpo mio“ deshalb als Dokumentarfilm zu bezeichnen, wäre allerdings nur bedingt richtig. Denn obwohl sich das, was die Protagonisten erleben, aus der Lebenssituation und dem Alltag der Darsteller ergibt, vergegenwärtigt der Film diese Realität nicht ungefiltert.

Szenen wie eine beeindruckend lange Plansequenz, in der Oscar und Roberto auf Fahrrädern von einem Dorf zum nächsten fahren, während man auf der Tonspur nicht nur das Surren der Speichen hört, sondern auch die Unterhaltung der beiden, verraten einen starken stilistischen Willen. Sie verlangen Planung, Vorbereitung, technisches Know-how, Konzentration und Können. In einem Interview hat Pennetta erwähnt, dass er Marco, Roberto und Oscar die erwähnte Streitszene kein zweites Mal habe spielen lassen wollen, was ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass dieser Film, der in vielem direkt aus dem Leben gegriffen wirkt, sehr wohl unter der strukturierenden Anweisung seines Regisseurs entstanden ist. Was zufällig und wie von ungefähr wirkt, ist vielleicht gar nicht so zufällig und ungefähr zustande gekommen.

Ein Hoffnungsfunke

Auch die einzige Szene, in der sich Oscar und Stanley im Film begegnen, ist kein Zufall. Oscar, den der Vater losgeschickt hat, um ein unbekanntes Gebiet zu erkunden, hat sich verirrt. Mitten in der Nacht kommt er zu der abgelegenen Mine, in der Stanley mit seinen Schafen übernachtet. Oscar tastet sich mit einer Stirnlampe durchs vermeintlich leere Gebäude. Stanley schreckt von einem Geräusch aus dem Schlaf, greift seinerseits nach einer Stirnlampe und macht sich auf die Suche nach der Quelle des Lärms. Bis sich beiden sich an den entlegenen Enden eines langen Korridors gegenüberstehen. Sie wechseln kein Wort. Die nächste Einstellung zeigt Oscar schlafend auf Stanleys Nachtlager. Damit flammt in „Il mio corpo“, der in vielem an den italienischen Neorealismus und die Filme von Vittorio De Sica, Roberto Rossellini oder die später entstandenen Sozialdramen von Pier Paolo Pasolini erinnert, in der Dunkelheit der Nacht unverhofft doch ein kleiner Hoffnungsfunke auf.

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