Melodram | Argentinien 2019 | 107 Minuten

Regie: Paula Hernández

Zum Jahresende trifft sich eine argentinische Verleger-Familie im Haus der alten, verwitweten Familienmatriarchin auf dem Land. Im Zuge des Treffens brodeln diverse Konflikte hoch, um persönliche Probleme, Abneigungen, unbeglichene Rechnungen und erotische Spannungen, nicht zuletzt aber auch um die Frage, ob der in die Krise geratene Verlag und das Elternhaus, das die Mutter verkaufen will, bewahrt werden sollen. Die Inszenierung lotet das Beziehungsgeflecht und die subtilen Machtverhältnisse zwischen den Figuren eindrucksvoll aus und balanciert gekonnt zwischen Melodramatik und Leichtigkeit. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LOS SONÁMBULOS
Produktionsland
Argentinien
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Oriental Films/Tarea Fina
Regie
Paula Hernández
Buch
Paula Hernández
Kamera
Iván Gierasinchuk
Musik
Pedro Onetto
Schnitt
Rosario Suárez
Darsteller
Ornella D'Elía (Ana) · Rafael Federman (Alejo) · Valeria Lois (Inés) · Marilu Marini (Memé) · Erica Rivas (Luisa)
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Melodram
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Das Treffen einer argentinischen Verleger-Familie im Haus der Mutter fördert latente Spannungen und Meinungsverschiedenheiten an den Tag: Ein subtil inszeniertes Melodram.

Diskussion

Eine Frau läuft nachts durch die Wohnung. Das Bett im Jugendzimmer ist leer. Im Badezimmer läuft Wasser in die Badewanne. Sie sucht überall. Am Ende findet sie die 14-jährige Tochter vor der Haustür, nackt und mit starrem Blick auf die Aufzugstür. Blut rinnt über ihren Fuß. „Ana, Ana“, sagt die Mutter leise, aber energisch: „Lass uns ins Bett gehen.“ Sie führt die Schlafwandelnde zurück in die Wohnung und wäscht das Blut von den Beinen. Emilio (Luis Ziembrowski), der Ehemann und Vater, schläft. Es ist Sommer, und eine Reise steht an.

Die einleitende, geradezu albtraumartige Plansequenz führt den Zuschauer direkt und dicht an die komplexe Beziehung zwischen Luisa (Érica Rivas) und ihrer 14-jährigen Tochter Ana (Ornella D’Elía) heran. Luisa möchte dem Kind ein Vorbild sein und der Heranwachsenden eine Vertraute, aber Ana fühlt sich von ihren Ratschlägen und ihrer Fürsorge erdrückt.

Das Familientreffen führt alle zusammen, doch innerlich streben sie auseinander

Die nächste Sequenz zeigt die Kleinfamilie auf der Reise in ihrem vollgepackten Auto: Vater, Mutter, Kind – jeder ist hinter seiner Sonnenbrille versteckt und sie haben sich nichts zu sagen. Die Reise geht aufs Land, um den Jahreswechsel im Haus von Emilios Mutter zu verbringen. Doch vor dem Anwesen steht ein großes Schild: „Zu verkaufen“. Der Vater wirkt betroffen.

Subtil und dabei mit Leichtigkeit steuert die argentinische Drehbuchautorin und Regisseurin Paula Hernández direkt auf die Probleme ihrer Protagonisten zu. Jeder hat seine Geheimnisse, Sehnsüchte und Pläne. Nichtsdestotrotz versammelt sich die Familie zu Silvester in dem Haus; der Rotwein fließt in Strömen, über dem Feuer brät das Fleisch und der Swimmingpool lockt.

Emilio ist der älteste und solideste von drei Geschwistern. Sein Bruder Sergio (Daniel Hendler) liebt dagegen den Wechsel, ist geschieden, mehrfacher Vater und macht, halb spaß-, halb ernsthaft, seiner Schwägerin Luisa den Hof. Die Schwester, Inés, kommt mit ihrer heroischen Rolle als alleinerziehende Mutter nicht zurecht, das Baby überfordert sie. Die Geschwister eint der gemeinsame Betrieb, der vom verstorbenen Vater übernommene Verlag – hier arbeitet auch Luisa als Übersetzerin. Aber der Verlag ist längst in den roten Zahlen, und nun will Meme, die Mutter, auch noch das Haus verkaufen. Sergio ist einverstanden, Inés ist es egal, Emilio dagegen will alles bewahren: seine Ehe, das Elternhaus, den Familienbetrieb.

Subtile Machtstrukturen

Damit stellt er sich auch gegen seine Frau Luisa, die sich nach Veränderung sehnt; sie will, dass das Haus verkauft wird und dass sie keine Manuskripte mehr für den Verlag ihres Mannes übersetzen muss, denn sie möchte selbst wieder schreiben und veröffentlichen. Die Ehe der beiden ist in der Krise, nie Gesagtes wird wütend ausgesprochen, Streit und Unverständnis verdunkeln die sommerliche Leichtigkeit. Die Sorge um die Tochter und ihr seltsames Schlafwandeln verbindet noch; die Großmutter, die Geschwister und Neffen, die ungefragt ihre Meinungen abgeben, vertiefen den Zwist eher noch. Auch Memé, die Mutter und Großmutter, schlafwandelt – das Oberhaupt einer postpatriarchalischen Familie, in der Bevormundung und überhöhte Fürsorglichkeit an die Stelle von Hierarchie und Autorität getreten sind.

Lachend betrachten die drei Geschwister die Sammlung von Fotos, aus denen Meme ungeliebte Personen mit der Schere entfernt hat. Eine latente erotische Spannung, aber auch eine Gier nach Wandel und Änderung beherrschen die Atmosphäre. Die Situation verschärft sich, als Sergios ältester Sohn Alejo (Rafael Federman), Rebell und schwarzes Schaf der Familie, unerwartet auftaucht. Er macht seiner Tante Luisa und ihrer Tochter Ana Avancen, und bei einem Lagefeuer mit Zeltlager kommt es zum Eklat.

Zwischen Sommerleichtigkeit und emotionalem Gewitter

Der Somnambulismus wirkt in diesem Kontext wie eine Metapher für den Zustand der Protagonisten. Paula Hernández ist eine Meisterin der Familienaufstellung, die die subtilen Machtverhältnisse zwischen ihren Figuren feinfühlig auslotet. Vieles erinnert dabei an Lucrecia Martels Meisterwerk „La ciénaga“ aus dem Jahre 2001, die bemerkenswerte Choreographie einer Familie im drückend heißen Sommer im argentinischen Norden, die unterschwelligen emotionalen Spannungen, die eruptionsartig nach oben drängen. Aber Lucrecia Martels Blick war kälter. Paula Hernández schafft dagegen Identifikation mit ihren Protagonisten, entfernt sich vom distanzierten Blick des „nuevo cine argentino“, ist dabei aber zugleich spannungsgeladener als die nostalgische Sommererinnerung mancher französischer Filme. Virtuos und mit starken Bildern gelingt der Filmemacherin die Balance zwischen psychologischem Melodrama und einer geradezu ansteckenden Sommerleichtigkeit, dank eines exzellenten Schauspieler-Ensembles und der Bildgestaltung von Iván Gierasinchuk, die die Vielstimmigkeit des Szenarios einfängt, über Plansequenzen, Handkamera und die Arbeit mit natürlichem Licht.

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