Die Herrin von Atlantis (1921)

Drama | Frankreich 1921 | 163 Minuten

Regie: Jacques Feyder

Stummfilm-Adaption des gleichnamigen Romanklassikers von Pierre Benoît um einen französischen Fremdenlegionär, der in Nordafrika eine mysteriöse Enklave in der Wüste findet und deren tödlich-faszinierender Königin verfällt. Der Film greift die orientalistischen Motive und Moden aus dem 19. Jahrhundert auf und verwebt sie zu einer üppigen kolonialistischen Fantasie um das „Andere“, in der Orient, Weiblichkeit und Tod ebenso verlockend wie beängstigend ineinander schillern. Der Film hat dramaturgische Längen und darstellerische Schwächen, beeindruckt aber mit üppigen Sets und atmosphärischen, in Nordafrika gedrehten Wüstenpanoramen. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
L' ATLANTIDE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1921
Produktionsfirma
Thalman et Cie/Société Générale pour le Développement
Regie
Jacques Feyder
Buch
Jacques Feyder
Kamera
Victor Morin · Amédée Morrin · Georges Specht
Darsteller
Jean Angelo (Hauptmann Morhange) · Stacia Napierkowska (Königin Antinea) · Georges Melchior (Leutnant de Saint-Avit) · Marie-Louise Iribe (Tanit-Zerga)
Länge
163 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Stummfilm
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IMDb | TMDB

Orientalistisches Stummfilm-Epos von Jacques Feyder um eine exotische Femme fatale, die als Königin eines mysteriösen Wüstenreiches Männer unwiderstehlich in ihren tödlichen Bann zieht.

Diskussion

Auf „Die Herrin von Atlantis“ muss man 90 Minuten lang warten. Dann endlich öffnet sich ein mit Geparden-Reliefs verziertes Portal zum Prunksaal; vor einem großen runden Fenster thront die Königin in einem Umhang mit Pfauenmuster, der noch halb ihr Gesicht bedeckt. Antinea (Stacia Napierkowska) trägt einen Helm mit Schlangenmuster, von dem zwei Hörner abstehen. Ihr Mienenspiel ist kriegerisch bis lüstern, nachdem sie den Schleier gelüftet hat. Die letzte Königin von Atlantis, das weiß man zu diesem Zeitpunkt schon, macht sich notorisch die Männer untertan, die in ihren Machtbereich eingedrungen sind. Sie gehen an Antinea zugrunde und werden nach ihrem frühzeitigen Tod in Goldstatuen verwandelt, die in großer Zahl den „roten Marmorsaal“ schmücken – ein filmarchitektonisches Glanzstück.

Ein Blockbuster der Stummfilmära

Mit einem Riesenbudget von zwei Millionen Francs verfilmte Jacques Feyder (1885-1948), der Anfang der 1920er-Jahre noch am Beginn seiner Filmlaufbahn stand, den preisgekrönten, später noch mehrfach adaptierten Roman „L’Atlantide“ Pierre Benoît um einen Leutnant der Fremdenlegion, der zur Zeit der französischen Kolonialherrschaft in Nordafrika einer mysteriösen Königin verfällt. Feyder hatte die Rechte für 10.000 Francs gekauft, als der Roman gerade ein paar Monate im Handel war, was sich als kluge Investition herausstellte. In Frankreich und auch im Ausland erwies sich „L’Atlantide“ als großer kommerzieller Erfolg; schnell spielte der Film ein Mehrfaches der Produktionskosten wieder ein.

Mit dem Stummfilm, der ursprünglich mit 221 Filmminuten noch eine halbe Stunde länger war als die in der arte-Mediathek (bis 30. Juni 2021) abrufbare restaurierte Fassung, begann Feyders erstaunliche Karriere. 1928 drehte der belgisch-französische Regisseur die heute verschollene Zola-Verfilmung „Thérèse Raquin“, 1929 kam sein erster Hollywoodfilm „The Kiss“ – und Greta Garbos letzter Stummfilm – in die Kinos, danach wurde Feyder mit dem Garbo-Projekt „Anna Christie“ (1930) betraut. Kurz vor seinem Tod vollendete der Regisseur 1942 „Eine Frau verschwindet“, der als erster bedeutender Tonfilm der französischen Schweiz gilt.

Die Wucht der Wüste

„Die Herrin von Atlantis“ beeindruckt vor allem durch die Palastkulissen und die in Nordafrika gefilmten Außenszenen. Die Dreharbeiten dauerten ein Jahr, davon verbrachte die Crew acht Monate in Algerien und 50 Tage in der Sahara. Große Teile des Kameranegativs blieben erhalten; davon profitieren nicht zuletzt die Gebirgsszenen und die Wüstenpanoramen des Films.

Von Anfang an unterstreicht die Inszenierung die immensen Naturräume, die der Mensch zu beherrschen trachtet. Feyder schneidet oft von der Panorama-Einstellung – mit winzigen Figuren am Horizont – zur halbnahen Einstellung und macht damit die extremen Lebensbedingungen für die Soldaten spürbar.

Das faszinierende Andere: Orient, Frau, Tod

Die in mehrfachen Rückblenden verschachtelte und mitunter arg abschweifende Geschichte ist weitgehend aus der Perspektive des Fremdenlegionärs de Saint-Avit (Georges Melchior) erzählt. Nachdem er halbtot in der Sahara gefunden wurde, erzählt er einem Kameraden, was ihm und seinem Vorgesetzten, dem Hauptmann Morhange (Jean Angelo), im Ahaggar-Gebirge widerfuhr. Hinter einer Höhle, in einem versteckten Tal, entdecken Morhange und Saint-Avit die Reste des sagenumwobenen Inselreichs Atlantis, wo sie nach ausgedehntem Antichambrieren auch die Fürstin der Oase kennenlernen.

Saint-Avit verfällt ihr mit Haut und Haar, während ihre Reize bei dem strenggläubigen Morhange nicht verfangen, der als Mönch zur Fremdenlegion stieß. Seine Verweigerung macht Antinea rasend. Sie bringt Saint-Avit durch Drogen dazu, seinen Freund mit einem Silberhammer zu erschlagen. Danach gelingt Saint-Avit dank einer ihm freundschaftlich zugetanen Zofe (Marie-Louise Iribe) die Flucht. Während die Dienerin in der Wüste verdurstet, wird Saint-Avit von seiner Truppe gefunden. Kaum hat er seine Erzählung abgeschlossen, trifft ein Abgesandter Antineas im Fort ein. Der Kamerad, dem Saint-Avit vom Abenteuer berichtet hat, folgt dem Leutnant auf der erneuten Expedition nach Atlantis. Beide müssten es besser wissen, aber Antinea, deren Antlitz den Reitern im Finale als Sonne am Wüstenhorizont erscheint, ist stärker als die Vernunft.

Ein stiller Star: der Sand

Nachdem er „L’Atlantide“ im Kino gesehen hatte, kommentierte der Filmemacher und Kritiker Louis Delluc: „Es gibt einen großartigen Akteur in diesem Film, das ist der Sand!“ Falls er – ex negativo – auf die schauspielerischen Leistungen abzielte, hatte er nicht unrecht. Als männermordende Natter übertreibt Stacia Napierkowska gewaltig, während die Männer eher durchschnittlich agieren. Doch es durchaus berechtigt, dem Hauptschauplatz in der ersten Hälfte des Films eine Rolle als wichtiger Charakter zuzuschreiben: Die riesige Sandfläche figuriert selbst als tödliche Verführerin, so mächtig wie die Königin Antinea. Bald wird klar, dass die unerbittliche Wüste und die menschenhungrige Herrscherin zwei Manifestationen derselben fundamentalen Wahrheit sind: Beide repräsentieren den Tod, der Menschen gleichermaßen ängstigt und fasziniert und dem sie hilflos ausgeliefert sind.

Natürlich funktioniert „Die Herrin von Atlantis“ nur, wenn man der romantischen Idee von der fatalen Verflechtung von Eros und Thanatos – in der Personifikation der unwiderstehlichen Antinea – folgt. Feyders schleppendes Erzähltempo und über 200 teilweise überflüssige Zwischentitel erschweren es trotz erheblicher Schauwerte, in die exotische Welt einzutauchen. Ein großes Manko der restaurierten Fassung ist überdies die fehlende Musik, obwohl 2004 ein neuer Soundtrack des Komponisten Eric Le Guen zu "L'Atlantide" erschienen ist. Als im wahrsten Wortsinn stummer Film taugt „L’Atlantide“ nur für Filmhistoriker und eingefleischte Nerds, die nach Feyders Film sicher auch die Neuverfilmung des Stoffes durch Georg Wilhelm Pabst aus dem Jahr 1932 mit Brigitte Helm in der Titelrolle sehen wollen.

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