Historienfilm | USA 2019 | Minuten

Regie: Allen Coulter

Eine Alternate-History-Dramaserie, in der die Sowjets den in den 1960ern tobenden „Wettlauf zum Mond“ gewinnen und der sowjetische Kosmonaut Alexei Leonow statt dem Amerikaner Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betritt. Die Ingenieure und Wissenschaftler der NASA lassen sich von diesem Tiefschlag jedoch nicht davon abhalten, weiter am eigenen Apollo-Programm zu arbeiten und den Bau einer Mondstation in Angriff zu nehmen. Staffel 2 spielt 10 Jahre später in den 1980ern und kreist um die Militarisierung der NASA während der Präsidentschaft Ronald Reagans; die Charaktere der Serie reagieren verschieden auf diese Entwicklung und das drohende Szenario eines nuklearen Krieges. Staffel 3 spielt in den 1990ern und kreist um die Bemühungen um eine erste bemannte Marsmission, wobei die Blockmächte Konkurrenz von einem steinreichen Privatmann bekommen. Die spekulative Alternativgeschichte klopft die amerikanische Raumfahrtgeschichte behutsam nach Gelegenheiten ab, sie mit progressiven Nebeneffekten umschreiben zu können. Die gelungene, oft an den Countdowns der Apollo-Mission orientierte Serie verliert zwar sukzessive das kritische Potenzial ihrer revisionistischen Vision, ist aber besonders in der lebensfeindlichen Umgebung des Weltalls immer wieder gekonnt inszeniert. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FOR ALL MANKIND
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Tall Ship Prod./Sony Pictures Tel.
Regie
Allen Coulter · John Dahl · Seth Gordon · Meera Menon · Sergio Mimica-Gezzan
Buch
Ronald D. Moore · Ben Nedivi · Matt Wolpert · Eric W. Phillips
Kamera
Stephen McNutt · Ross Berryman
Musik
Jeff Russo
Schnitt
Miklos Wright · Justin Bourret · Michael O'Halloran
Darsteller
Joel Kinnaman (Edward Baldwin) · Michael Dorman (Gordo Stevens) · Jodi Balfour (Ellen Wilson) · Wrenn Schmidt (Margo Madison) · Sarah Jones (Tracy Stevens)
Länge
Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Historienfilm | Serie

Eine Alternate-History-Dramaserie über eine Geschichte der US-Weltraumbehörde NASA, in der die Sowjets den in den 1960ern tobenden „Wettlauf zum Mond“ gewinnen und der sowjetische Kosmonaut Alexei Leonow statt dem Amerikaner Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betritt.

Diskussion

Staffel 1& 2

Die erste Flagge, die ins Mond-Regolith gesteckt wird, zeigt Hammer und Sichel. Das Raumfahrt-Programm der USA steht von nun an im langen Schatten des marxistisch-leninistischen Symbols. Ein Schatten, über den, zumindest mit der Raketentechnik der NASA, erstmal niemand springen wird. Die UdSSR gibt den Takt vor beim Wettlauf ins All; bringt den ersten Kosmonauten und kurz darauf die erste Kosmonautin zum Mond. Neil Armstrong und Buzz Aldrin gelingt mit Apollo 11 derweil nur eine Bruchlandung auf der Mondoberfläche. Die ersten Runden gehen an die Sowjetunion. In den Vereinigten Staaten denken allerdings weder Washington noch Houston daran aufzugeben.

Das „Space Race“ wird im alternativen Geschichtsszenario, das die Serie „For All Mankind“ beschreibt, behutsam auf spekulativen Pfaden fortgesetzt. Behutsam heißt in diesem Fall, dass die Geschichte des amerikanischen Raumfahrtprojekts nicht gänzlich über den Haufen geworfen, sondern (besonders in der ersten Staffel) so gründlich wie vorsichtig auf potenzielle Abzweigungen in alternative Realitäten abgeklopft wird. Genug Gelegenheiten für den opportunistischen Geschichtsrevisionismus gibt die Raumfahrt-Geschichte ohnehin her. So wird der deutsche Ingenieur Wernher von Braun (Colm Feore) noch während seiner Zeit als Direktor der NASA (unserer Geschichtsschreibung nach eigentlich Direktor des Marshall Space Flight Centers) mit den Verstrickungen in die Politik der Nationalsozialisten konfrontiert und in der Folge abgesetzt, das Mercury-13-Programm für Frauen bei der NASA wird als Ausbildungsprogramm für Astronautinnen wiederaufgegriffen, und die amerikanisch-sowjetische Kooperation beim Apollo-Sojus-Test-Projekt wird zum letzten Ausweg aus einer bis an den Rand des Nuklearkriegs eskalierten Bedrohungssituation.

Der Mond als Austragungsort des Kalten Krieges

Der Ost-West-Konflikt wird nicht mehr über Stellvertreterkriege in Südostasien, Südamerika oder Afrika ausgetragen, sondern ins All beziehungweise auf den Mond ausgelagert. Auf der Erde ist der Kalte Krieg nur dann erlebbar, wenn die Defcon-Alarmstufe so weit runtergezählt ist, dass die Atombunker aufgesucht werden müssen. Tatsächlich eignet sich die lebensfeindliche Oberfläche des Mondes, deren Begehung immer ein ganz eigenes Pathos mit sich bringt, ausgezeichnet für Symbolbilder des Konflikts. Das erste Aufeinandertreffen von Kosmonaut und Astronaut produziert ein eben solches Bild. Vom tödlichen Vakuum umgeben, vom Raumanzug jeglicher Mimik und fast aller Gestik beraubt, stehen sich die Raumfahrer wie wandelnde Denkmäler gegenüber. Im Visier des anderen gespiegelt, sind sie nur noch Projektionsflächen für das angelernte Misstrauen, das nicht nach dem Menschen hinter dem Raumanzug Ausschau hält, sondern nach dem Aufdruck an dessen Seite.

Das Spiegelbild bleibt die gelungenste Darstellung des ideologischen Konflikts, der sukzessive auf Gegensatzpaare wie Wodka und Whisky oder Burger und Borschtsch reduziert wird und dabei viel des kritischen Potenzials verliert, das der revisionistischen Ansatz hergibt. Es geht Showrunner Ronald D. Moore weniger um eine kritische Reflexion der Vergangenheit als um die progressiven Nebeneffekte, die das „alternate history“-Szenario hergibt. Synchron mit den großen Sprüngen der Raumfahrt schreitet nicht nur die bereits erwähnte Frauen-, sondern auch die Schwulen- und Bürgerrechtsbewegung voran.

Im Mikrokosmos NASA

Erzählt wird das nicht zwischen Moskau und Washington, sondern fast ausschließlich im Mikrokosmos NASA. Im ständigen Wechsel zwischen dem ikonischen Kontrollraum in Houston, der örtlichen Astronautenbar und den dazugehörigen Vorstadthäusern entwirft „For All Mankind“ seine Perspektive auf ein Weltraumrennen, das es so nie gegeben hat, in einem Kalten Krieg, den es so nie gegeben hat. Von hier aus richten die Beteiligten – zunächst eine uniforme Masse von Draufgängern und Nerds, die sich bald in Richtung Diversität auffächert – ihren Blick gen Himmel beziehungsweise auf den jeweiligen Bildschirm, der dieses Nach-Oben-Blicken möglich macht. Mit einem Headset auf dem Kopf, mit einem Whisky in der Hand oder bei der allabendlichen Zusammenkunft auf der Couch gedrängt, versuchen alle zu vergessen, dass sie letztlich nicht die geringste Kontrolle über das haben, was jenseits der Erdatmosphäre geschieht.

Den dramaturgischen Takt geben Countdowns und Ausbildungszyklen vor. In stetiger Erwartung einer technischen oder diplomatischen Katastrophe (von denen es einige geben wird) führt die Serie damit gekonnt durch die nostalgisch angestrichene, heiße Phase des Space Race, die mit einigen Ellipsen von der Nixon-Ära bis in die Reagan-Ära führt. Das Weltraumrennen wird dabei von der Entdeckungsreise zum Stellungskrieg. Aus der Erforschung des Kosmos wird die Verwaltung von Wissenschafts- beziehungsweise Militärstationen, aus den Muscle-Cars werden Oberklassewagen, die Kinder werden Jugendliche und der Draufgängerjob wird zur Nine-to-Five-Existenz. All das passiert, während die NASA gegen den eigenen Willen immer weiter zur pseudomilitärischen Organisation umgeformt wird.

Tauziehen zwischen Militär und Forschung

Der Ausgang des Tauziehens zwischen Militär und Forschung scheint bereits beschlossen, als die Rote Fahne in die Mondoberfläche gesteckt wird, bekommt dennoch mit jeder neuen Apollo-Mission eine eigene Dynamik. Jedes neue Satellitenbild ruft die Generäle auf den Plan, jeder PR-Erfolg der zivilen Raumfahrt drängt sie wieder ein Stück zurück. Zaghaft schimmert dabei auch immer durch, dass das Space Race weniger im Dienst der gesamten Menschheit steht als vielmehr den provinziellen Eitelkeiten der Supermächte im Großen und der sportlichen Eitelkeit der Astronauten im Kleinen dient.

Im Zentrum des Konflikts von Rüstung und Forschung steht letztlich weder Houston noch Washington, sondern der von Joel Kinnaman verkörperte Protagonist Ed Baldwin. Als ehemaliger Navy-Flieger, Korea-Veteran und erster Pilot, der mit Apollo-10 die Umlaufbahn des Mondes erreichte, ist er einer der letzten archetypischen Tausendsassa-Astronauten aus einer Ära, die längst Vergangenheit sein sollte, sich aber mit den Spannungen zwischen Washington und Moskau deutlich über ihre Halbwertszeit hinaus verlängert. Baldwin bleibt der wichtigste Frontrunner des Kalten Kriegs im Weltall, wird der erste Mann auf der US-Mondbasis, der erste Shuttlepilot der NASA und der erste der Astronauten-Väter, der sich auch innerlich so weit von der Erde entfernt hat, dass er sich daheim lieber vor seinem Sohn versteckt, als ihm das Radfahren beizubringen – bis die nächste Mission ansteht.

Das All ist immer kälter als der Krieg

Die Flucht in Richtung Universum ist auch für die Serie selbst oft die beste Option, wenn es darum geht, die allzu weit ausfasernden Nebenstränge hinter sich zu lassen. Nicht alles lässt sich mit der Fluchtgeschwindigkeit von 38.900 km/h abhängen, doch wie eigentliche alle zeitgenössischen Raumfahrtgeschichten des Kinos, so unterschiedlich sie in Genre und Form auch sein mögen, ist „For All Mankind“ eben dort am besten, wo die Umgebung am lebensfeindlichsten ist. Im schwarzen Vakuum des Weltalls, vor dem auch die Mondoberfläche keinen Schutz bietet, werden die kleinsten Risse der physischen und psychischen Konstitution in Sekunden von der Nebensache zur tödlichen Bedrohung. Selbst antikommunistische Hysterie, Washingtons Befehlsgewalt und die „Red Scare“ müssen sich hinter der Paranoia einreihen, den die Begegnung mit dem Kosmos auszulösen vermag. Das All ist immer kälter als der Krieg.

 

Staffel 3

Dev Ayesa (Edi Gathegi) leitet die erste Mars-Expedition der Menschheit. Nicht für die NASA, nicht für den sowjetischen Gegenpart Roscosmos. Seine Vision hat keine explizit politischen oder wissenschaftlichen Ansprüche, keinen staatlichen Auftrag oder Rückhalt. Sie folgt nur dem wichtigsten aller Superlative: erster zu sein; die Leistung vollbracht zu haben, hinter der sich alle anderen einreihen müssen, den eindeutigen unbestreitbaren Triumph. Mit seinem Geld kann der charismatische Milliardär das Raumschiff, das Kontrollzentrum, das Personal und die Crew kaufen; eben alles, was er braucht, um seinen Namen als Leiter der ersten bemannten Mars-Mission in die Geschichtsbücher zu bringen.

Dev ist, allen Definitionen nach, die dieses alternative Geschichtsszenario hervorbringt, ein großer Mann. Nur im Mission Control Center in Houston, Texas, dem legendären Ort, von dem aus die NASA ihre Raumfahrt-Unternehmungen koordiniert, ist Dev Ayesa wieder ein kleines, ehrfürchtiges Kind. Allein sitzt er auf der Besuchertribüne, eine Silhouette, getaucht in den Schimmer der unzähligen Bildschirme. Ein emblematischer Moment für die „Alternate History“-Serie, der die ständigen Zankereien zwischen den Supermächten (und nun auch dem Großunternehmen Ayesas) in den Hintergrund drängt und die Bühne der zukunftszugewandten und zugleich nostalgischen Idee der Weltraumforschung überlässt.

Das Ende der Geschichte ist vertagt

Die dritte Staffel von „For All Mankind“ führt das „Space Race“ in die 1990er-Jahre. Der Kalte Krieg ist nicht beendet. Er ruht. Der Mond ist befriedet und zwischen den Supermächten aufgeteilt, die Stellvertreterkriege auf der Erde liegen in der Vergangenheit, China ist noch eine schlafende Supermacht und Nordkorea bleibt mit seinen scheiternden interstellaren Ambitionen eine eher lächerliche Fußnote zur unter Gorbatschow neu erstarkten Sowjetunion. Die ehemalige Astronautin Ellen Waverly (Jodi Balfour) ist als Präsidentschaftskandidatin und potenziell größte Widersacherin der Sowjetunion keine xenophobe, von Aufmerksamkeit und Macht besessene Potentatin, sondern eine aufrichtig an besseren Rechten für alle interessierte Republikanerin. Das Ende der Geschichte ist vertagt.

So setzt die Serie ihren Kurs erneut abseits exotischer Science-Fiction-Topoi in Richtung nostalgischer Alternativhistorie fort. Das dazugehörige Sittenbild bleibt an zeitgenössischen Diskursen ausgerichtet. Draufgängertypen wie Ed Baldwin (Joel Kinnaman) und Molly Cobb (Sonya Walger) werden in der Hierarchie zunehmend von spießigen Nerds wie NASA-Direktorin Margo Madison (Wrenn Schmidt) und der ihr folgenden Generation von Wissenschaftlerinnen, wie Baldwins Tochter Kelly (Cynthy Wu) und Madisons Fast-Adoptiv-Tochter Aleida (Coral Peña) verdrängt. Offen homosexuelle Astronauten kämpfen um ihren Platz in besagter Hierarchie, und eine Gruppe von Verschwörungstheoretikern versucht, die gesamte Ordnung der NASA zu unterminieren.

Die Bedrohungsszenarien der Gegenwart fließen ein

Der Zuschnitt auf Repräsentations- und Rechtefragen innerhalb der alternativen Geschichtsschreibung wirkt mitunter allzu forciert, besonders im Abgleich mit den ersten Staffeln, die selbige deutlich eleganter in die Geschichtsbücher hineinschrieben. Effizienter ist die Serie darin, die großen Bedrohungen der Gegenwart zu bewältigen. Die Vernichtung der Zivilisation durch die Klimakatastrophe und die nukleare Bedrohung werden mit dem kleinen bisschen Science-Fiction, das die Serie einstreut (die Fusionsenergie ist Realität, das Wettrüsten auf das Weltall ausgelagert) vom Tisch gewischt. Was bleibt, ist ein schmeichelndes Spiegelbild unserer Gegenwart, das genug Raum für Optimismus und die daraus folgende Hybris lässt.

Im Kern ist „For All Mankind“ noch immer um die Momente gebaut, in denen besagte Hybris ihren Preis fordert, sprich: um die Mars-Mission, die Ed Baldwin, Danielle Poole und ihre sowjetischen Gegenparts und die dazugehörigen Crews erneut als Kontrahenten und Verbündete ins All schickt. Das lebensfeindliche Vakuum bringt den Anspruch auf Superlative ins Wanken, lässt politische Konflikte hochkochen, stellt Identitätsfragen neu und unterwirft politische und private Konflikte einer eigenen gnadenlosen Dynamik. Ein versäumter Knopfdruck, eine harmlose Bemerkung oder ein kurzes Zögern: jedes winzige Rädchen im Gesamtapparat der auf drei Raumschiffe verteilten Mars-Mission hat ein kaum zu antizipierendes Eskalationspotenzial. Wild changieren einzelne Situationen zwischen Tragik und Komik. Brüche innerhalb von Familienkonstellationen und Traumata vergangener Katastrophen geraten in der Schwerelosigkeit so weit außer Kontrolle, dass sie sich selbst, durch die Lebensgefahr, die sie herbeiführen, wieder beiseiteschieben.

Die fiktiven 1990er sind (und damit kommen sie dem Geist der 1990er-Jahre schon wieder recht nah) eine Ära, die der Menschheit Zeit lässt für die großen Entdeckungen und das große Drama, das nicht mehr auf einem Schlachtfeld oder an der Front der Meinungshoheit stattfindet, sondern im Kontrollzentrum der NASA. In eben dem nostalgischen Raum, der selbst den narzisstischen Milliardär für einen Moment zum Innehalten bringt, um sich an seine Kindheit und mit ihr an die (fiktive) goldene Ära der Raumfahrt zu erinnern, und in dem man gemeinsam um das Leben der Astronauten und Kosmonauten dieser Welt bangen konnte.

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