Music liebt Musik. Gleich in der Früh setzt sich das Mädchen seine großen, bunten Kopfhörer auf und drückt auf „Play“. Seine Oma macht ihm liebevoll zwei Spiegeleier wie ein Augenpaar, zieht mit dem Ketchup einen lachenden Mund auf den Teller und flechtet ihrer Enkelin Zöpfe. Music ist Autistin. Sie kann Menschen wahrnehmen, Gesichtsausdrücke speichern, abrufen und Worte nachsagen, aber nicht selbst sprechen. Trotzdem bewegt sie sich sicher durch eine ziemlich sichere New Yorker Nachbarschaft. Die Sonne scheint. Ein Zeitungsverkäufer schenkt ihr Hundefotos, eine Obstverkäuferin eine Melone.
Bekanntlich trügen Idyllen am Anfang von Filmen. Die Oma bricht in der Küche zusammen und stirbt. Ein Nachbar tröstet das Mädchen, das seine Traurigkeit nicht mit Tränen, sondern mit einem nervösen Summen ausdrückt. Der Nachbar informiert die einzige Verwandte: Zu (Kate Hudson), die Halbschwester. Diese ist gerade auf Bewährung frei und übt sich im Nicht-Trinken und im Nicht-High-Sein. Zu hat zwar dieselbe Verspieltheit wie Music, aber sie fühlt sich keineswegs verantwortlich. Zu ruft in einer Klinik an und fragt, ob man ihre Halbschwester abholen kann. „Abholen wie ein Wäschedienst?!“ Die Person am anderen Ende der Leitung legt auf. So muss Zu zu Music in die frühere Wohnung der Großmutter einziehen.
Feuerwerk an Reizen
Gleich am ersten Morgen geht alles schief. Keine Spiegeleier und kein Zöpfe-Flechten. Music fängt an zu schreien und um sich zu schlagen. Zu ist überfordert. Ebo, ein anderer Nachbar, klopft und legt sich auf Music, umarmt und beruhigt sie. Diese Geste hat nichts Sexualisiertes, sondern zeigt, wie gut er das Mädchen kennt und ihr in Stresssituationen helfen kann. Music wird ruhiger. Zu auch. Ebo hilft ihr mit Music umzugehen: „Jede Veränderung nimmt sie als Feuerwerk an Reizen wahr.“
Dieses „Feuerwerk“ gelingt auch auf filmischer Ebene. Figuren frieren ein und wachen im Spotlight einer Regenbogenwelt aus Pappmaché und Plastik wieder auf. Sie singen, tanzen und ziehen Grimassen wie Maddie Ziegler, die Schauspielerin von Music. Man merkt, dass die Ästhetik von Sia, der erfolgreichen Popsängerin und Songwriterin, stammt, die hier ihr Regiedebüt gibt. Ebenso bekannt ist Ziegler, ihr jüngeres Alter Ego, die schon in zahlreichen Musikvideos aufgetreten ist. Auch wenn sie den Vorwurf der angloamerikanischen Presse, als nicht-behinderte Person einen behinderten Charakter darzustellen, nicht abweisen kann, überzeugt Ziegler sowohl mit ihrem expressiven Tanz als auch mit ihrer natürlichen Ausstrahlung.
Musical und Sozialdrama
Sia gelingt der Wechsel zwischen Konfetti-Exzess und Alltags-Kämpfen weitgehend mit der notwendigen Balance. Bisweilen kommen die Probleme aber sehr geballt: Einbruch, Diebstahl, Bewährungsstrafe, Drogenmissbrauch, Drogenhandel, Alkoholismus, Selbstmord… Da bleibt nicht viel Zeit für Tiefe. Sobald der Film sich als Sozialdrama mit zu viel Mikro-Sozial-Dramen selbst überlastet, tauchen wir in die Welt aus Sicht von Music ein. Mal nur sekunden-, mal minutenlang. Mal melodisch, mal dissonant. Sia schafft es, die andersartige Wahrnehmung von Music in Ansätzen erfahrbar zu machen.
Ab dem zweiten Drittel des Films verlagert sich der Fokus dann auf Zu und Ebo, dargestellt von Kate Hudson und Leslie Odom Jr. Auch diese Entscheidung wirkt problematisch, denn man wird das Gefühl nicht los, dass die gemeinsame Sorge um Music nur dazu dient, um das Paar Zu und Ebo zusammenzubringen. Sie lernen sich und ihre vielen Probleme kennen, während Music zu allen Treffen „mitgeschleppt“ wird und aus dem Fokus gerät. Was schade ist, wäre doch gerade die Frage, ob und wie die Erfahrung der Veränderung eine bei ihr Charakterentwicklung anstößt, spannend gewesen.
Wie ein Glückspille
So funktioniert der Film eher wie ein Musikvideo: Es werden kurz Emotionen gezeigt und behauptet und dann mit Sing-und-Song-Einlagen ironisiert, verstärkt oder abgefedert. Sia will dem Publikum zeigen, wie sich mit Rückschlägen des Lebens spielerisch umgehen lässt. Am besten man stellt sich diesen Film als eine Glückpille vor, deren Wirkung schnell einsetzt, aber auch schnell wieder abflacht.