Dokumentarfilm | Deutschland 2021 | 115 Minuten

Regie: Chris Wright

In einem dokumentarischen Projekt nähern sich die beiden Filmemacher Chris Wright und Stefan Kolbe einem Frauenmörder. Sein Wunsch nach Anonymität forciert ein filmisches Nachdenken über die Grenzen des Darstellbaren und die szenischen Möglichkeiten dokumentarischen Arbeitens. Gemeinsam mit Puppenspielerinnen werden Ausführungen des Täters reinszeniert und Bilder für biografische Fragmente entwickelt. Auch die Therapeuten im Strafvollzug kommen dabei zu Wort. Mit betonter Selbstreflexivität begleitet der Film den Resozialisierungsprozess und wirft dabei ein Netz von Andeutungen aus, die sich nie auf die Anmaßung einer abschließenden Erklärung einlassen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
ma.ja.de Filmprod./kolbewright/ZDF/3sat
Regie
Chris Wright · Stefan Kolbe
Buch
Chris Wright · Stefan Kolbe
Kamera
Stefan Kolbe
Musik
Johannes Winde
Schnitt
Chris Wright
Länge
115 Minuten
Kinostart
22.07.2021
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Mit dem Fokus auf die Grenzen des Darstellbaren entwirft der Film Bilder eines verurteilten Mörders, die er zugleich künstlerisch befragt.

Diskussion

Eine Leinwand aus Stoff schwebt hell erleuchtet in einem dunklen Raum und bewegt sich sanft, fast unmerklich. Auf sie wird das filmische Bild eines Mannes projiziert, der in einem kargen Raum auf einem Stuhl sitzt und den Zuschauern den Rücken zukehrt. Er selbst blickt dabei aus einem kleinen Fenster und beschreibt mit kaum verständlichem, hektischem Murmeln, was er dort sieht. Zwei junge Frauen betrachten diese Vorstellung in unmittelbarer Nähe aus der Sicht eines Publikums. Ihre von derselben Projektion angestrahlten Körper spiegeln sich plötzlich in der Leinwand und überlagern sich so auf gespenstische Weise mit der groben Statur des dargestellten Mannes.

Über die Schwierigkeit, sich mit Gewalt zu konfrontieren

Schon in der ersten Szene ihres dokumentarischen Essays „Anmaßung“ schaffen die Regisseure Chris Wright und Stefan Kolbe eine komplexe visuelle Anordnung, um die Grenzen des Sichtbaren und Erkennbaren zu thematisieren, ebenso wie eine Verstrickung in Imaginationen.

Der Mann, im Film Stefan S. genannt, ist ein Mörder und möchte anonym bleiben. Seine Mitwirkung bei dem Projekt wird zu einer darstellerischen Herausforderung, die sich für Wright und Kolbe als Chance erweist, die Medialität des Dokumentarischen zu befragen. Der Fokus von „Anmaßung“ liegt damit nicht auf einem möglichst genauen Porträt von Stefan S., sondern auf der Frage, welche Bilder und Vorstellungen im Zwischenraum der Annäherung an einen Täter entstehen. Ermittelt werden im Film nicht vorrangig die genauen Umstände des Verbrechens, sondern die Schwierigkeit, sich mit Gewalt zu konfrontieren und als Gesellschaft langfristig mit ihr umzugehen.

Das Medium, über das der Nachvollzug in „Anmaßung“ möglich werden soll, ist eine kahlköpfige Handpuppe. Sie wird von den beiden Frauen, zwei professionellen Spielerinnen, zum Leben erweckt und zunächst vermessen, um sie einzukleiden. Ihre kleine Statur, die nur Kindergröße möglich macht, wirkt zunehmend unheimlich. Manchmal verkörpert sie Stefan S. in seinen frühesten Erinnerungen, dann wieder als inhaftierten Mann im Strafvollzug. Die Spielerinnen sprechen dabei seine Ausführungen Wort für Wort ein. Zwischen ihnen und der Puppe, die einen Frauenmörder darstellt, entsteht eine befremdliche Spannung, in der auch Macht- und Ohnmachtsdynamiken auftauchen.

Arbeit am Fragmentarischen

Neben diesen theatralen Reinszenierungen von dokumentarischen Interviews suchen Chris Wright und Stefan Kolbe immer wieder Bilder, die ebenso ausdrucksstark wie unaufdringlich die Lebensgeschichte des Täters illustrieren. Ein Fresko aus der DDR-Zeit kommt in den Blick, als von einer Jahre andauernden Krankenhausbehandlung nach der Geburt die Rede ist. Es zeigt eine eigentümliche Familienszene an einer Gebäudefassade, bei der die Kamera die steinerne Mutter-Kind-Konstellation näher in den Blick nimmt. Wer von der Bindungstheorie John Bowlbys weiß, kann sich denken, was eine frühe Hospitalisierung für ein Kleinkind bedeutet und welche Folgen eine solche Deprivation haben kann - besonders in einem Unrechtsstaat wie der DDR, dessen Gewaltgeschichte der Heimunterbringung gerade erst aufgearbeitet wird. Auch im späteren Verlauf seines Lebens wird der Protagonist Übergriffe durch Erzieher und Gleichaltrige schildern, darunter auch sexualisierte Gewalt. Wright und Kolbe konstatieren bei Stefan S. von Beginn an autistische Züge, ziehen jedoch bewusst keine Schlüsse aus den biografischen Fragmenten, die Ahnungen erzeugen, ohne jemals als Erklärung hinzureichen.

Für die am Strafvollzug Beteiligten sind solche Rekonstruktionen eher undienlich. Das Gericht muss zur Urteilsfindung notwendigerweise Verantwortung zuschreiben und Absichten klären. Die Psychologen in der JVA Brandenburg, in der Stefan S. den Großteil seiner lebenslänglichen Haftstrafe von fünfzehn Jahren absolviert hat, sind keine Psychoanalytiker, sondern Verhaltenstherapeuten. Sie geben dort Kurse für Selbstmanagement und Gruppensitzungen zu „Männlichkeit und Identität“. Im Gespräch mit den beiden Filmemachern erklärt der Behandler Steven Feelgood, dass es nicht darum ginge, mit den Klienten eine Wahrheit in Bezug auf sich selbst zu erarbeiten. Im Gegenteil, gerade die biografische Lüge sei ein Zeichen dafür, dass eine Reflexionsfähigkeit für Scham und Schuld vorhanden sei, anders als bei den Tätern, die alles von sich preisgeben würden. Natürlich stelle sich in Bezug auf die Unfassbarkeit jedes schweren Gewaltverbrechens die Frage nach den Gründen und erwachse damit auch ein Wahrheitsbegehren. Aufgrund der unterschiedlichen subjektiven Wahrnehmungen der Beteiligten sei dem allerdings nur teilweise beizukommen.

Misstrauen gegenüber der Unmittelbarkeit

Wright und Kolbe nehmen diese Hypothesen zur Unterstützung ihres filmischen Konzepts auf und verlassen sich stellenweise zu sehr darauf. In der Fokussierung auf die Medialität der Annäherung wirkt der Film etwas unentschlossen, ob er dies nun aus psychosozialer, ethnographischer oder theatraler Perspektive unternimmt. So fallen gerade die Szenen mit der Puppe stark aus dem Erzählfluss heraus, auch wenn sie für sich genommen sehr eindrücklich mit den Erfahrungen des Protagonisten arbeiten. Der Dokumentarfilm „Caniba“ von Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel kommt einem in den Sinn, der für ein ähnliches filmisches Anliegen einen viel integrativeren Ansatz vorstellt und sich auf die Physis und Erlebenswirklichkeit eines Frauenmörders ganz einlässt. Manchmal wünscht man sich mehr von Stefan S. zu sehen, seine Statur, seine Körperlichkeit, um sich selbst mehr auf den schwierigen Verstehensprozess einlassen zu können, auch ohne Gesicht.

„Anmaßung“ betont dagegen bewusst das Hinterfragen der Aufnahmesituation und problematisiert die Unmittelbarkeit von Erfahrung. Immer wieder sind die beiden Regisseure im Bild mit Kamera und Tonangel präsent, geben die Produktionsbedingungen kontinuierlich zu denken. Es sei eben kein Film über Stefan S., sondern darüber, wie man auf ihn blickt, heißt es schon zu Beginn als Setzung. Ein wichtiger Vorzug dieser Herangehensweise ist, dass er die Ohnmacht derer, die sich ihm nähern, mitthematisiert und damit auch die eigenen Abwehrprozesse anerkennt und deutlich macht.

In einer der besten Szenen des Films sind die Augen des Täters zu sehen, während Filmemacher und Puppenspielerinnen ihn mit dem Gewicht seiner Tat konfrontieren. Hier ist es gerade das Fragmentarische, was den Moment so eindringlich macht: Der Bildausschnitt des heftig blinzelnden Gesichts, projiziert auf eine zuvor angefertigte Gipsmaske des Täters, in einem Wechselspiel aus Produktion und Reflexion.

Die Komplexität der Täterarbeit

Arbeit mit Tätern ist nach wie vor gesellschaftlich umstritten, sie löst intensive Affekte aus. „Anmaßung“ ist ein sehr starker Film in seiner Konfrontation mit der unangenehmen Alltäglichkeit von Gewalt, er mutet sie den Zuschauern so behutsam wie möglich zu und zeigt, wie notwendig dies zugleich ist. Aus einem Verbrechen, das vermutlich nur eine Randnotiz in den Nachrichten darstellte, entsteht eine vielschichtige Realität, deren Andauern der Film entfaltet und damit auf dem Problem insistiert. Kann Resozialisierung gelingen und inwieweit ist sie überhaupt psychologisch möglich? Möchte eine Gesellschaft dies als Teil ihres ethischen Selbstverständnisses begreifen, auch wenn es die Grenzen des Verstehbaren, und damit des Beherrschbaren, berührt?

Auch wenn Chris Wright und Stefan Kolbe sich von einer Ergründung der Tat distanzieren und objektives Wissen in Frage stellen, scheint in ihrem Film doch eine poetische Wahrheit auf. Nicht als absolute Aussage, sondern als ästhetische Figuration von ganz unterschiedlichen Elementen, die sich eindrücklich im Bild des Fadens zusammenfügen. Stefan S. hat wie sein Vater in einer Fabrik gearbeitet, die Kunststofffasern hergestellt hat. Sie war ein weltweit bedeutender Produzent von Angelschnüren. Der Wegfall seines Berufs treibt ihn nach dem Ende der DDR in eine Textilfabrik nach Bayern, in der er sein Opfer kennenlernt, sich in sein fetischistisches Begehren nach ihrer Kleidung verstrickt. Nach seiner Inhaftierung versucht sich der Mörder in der Grußkartenstickerei mit bunten Kunststofffäden; die Ergebnisse werden fortan auf dem Vorplatz von Kirchen verkauft.

Immer wieder entwirft der Film Bilder aus der Fadenfabrik, die mal die monotone Gewalt der schweren Maschinen betonen, aber auch eine Arbeiterin zeigen, die kunstfertig und routiniert die Fäden an ihnen spinnt. Auf der Tonebene ist ein Saiteninstrument zu hören, dessen bedrohliche Komposition in die Szenen der Tat verwebt ist. Als die Hände von Stefan S. in der Großaufnahme die Figur eines blonden Engels sticken und die Nadel das Bild der Frau gleichzeitig hervorbringt und perforiert, vermittelt sich zwischen all diesen Eindrücken ein ebenso assoziativer wie prägnanter Zusammenhang.

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