Jesus Egon Christus

Drama | Deutschland 2021 | 51 Minuten

Regie: Saša Vajda

Ein selbsternannter Priester kümmert sich auf einem heruntergekommenen Gehöft bei Berlin um Menschen mit Suchtproblemen und geistigen Behinderungen. Er bietet ihnen eine Unterkunft und führt sie mit harter Hand durch den kalten Entzug. Ein neu in die Gruppe kommender Sonderling lässt sich jedoch nicht integrieren. Er nimmt den Messias beim Wort und versucht dessen Wunder zu begreifen, was ihn tiefer in die geistige Umnachtung treibt. Das fragmentarische Drama stülpt Innenwelten nach außen und findet unkonventionelle, packende Bilder für Einsamkeit, Psychose und eine Gruppe Heroinabhängiger auf Entzug. Ein ungewöhnlicher, mitunter auch irritierender Zugang zu einem brisanten Thema. (Premiere im Rahmen der Sektion „Perspektive deutsches Kino“ bei der Berlinale 2021) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Vajda Film
Regie
Saša Vajda · David Vajda
Buch
David Vajda · Saša Vajda
Kamera
Antonia Lange
Schnitt
David Vajda · Saša Vajda · Benjamin Mirguet
Darsteller
Paul Arámbula · Sascha Alexander Gersak · Roxanna Stewens · Angelo Martone · Benjamin Stein
Länge
51 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Filmessay
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IMDb | TMDB

Eine fragmentarische Doku-Fiction über das Schicksal eines Heroinabhängigen, der mit seinem zerstörten Selbstbild und den unkonventionellen Therapiemethoden eines selbsternannten Priesters zu kämpfen hat.

Diskussion

Noch ist die Leinwand dunkel, und eine raue Stimme flüstert das alte, schöne Lied der Verheißung: „Somewhere over the Rainbow“, irgendwo werde ich zu mir kommen, irgendwo wird mir geholfen werden. Doch sogleich setzt Ernüchterung ein. Einem jungen, hochnervösen Mann, der stets nur halbe Sätze aus sich herausstößt, werden die Haare geschoren. Das Motiv des erniedrigten Menschen, der gequälten Kreatur. Ein Bild, das man aus anderen Zusammenhängen kennt, aus Filmen über deutsche Konzentrationslager oder den sowjetischen Archipel Gulag.

Bilder und Töne der Einsamkeit und Psychose

Doch es handelt sich um die Gegenwart, und Egon, der junge Mann, wird in eine Behausung irgendwo bei Berlin eingeführt. Ein Universum zwischen Heil- und Haftanstalt, Alltag und Albtraum; mehr teilt der Film zunächst nicht mit. Die Regisseure David und Saša Vajda haben mit „Jesus Egon Christus“ kein zeitlich und örtlich genau konturiertes Sozialdrama im Sinn, sondern sie suchen nach etwas anderem: Sie stülpen Innenwelten nach außen, finden Bilder und Töne einer Psychose und der Einsamkeit des davon betroffenen Individuums. Das Gehöft, in das Egon kommt, wird von einem evangelikalen Priester geleitet. Er versammelt Menschen mit Suchtproblemen und geistigen Behinderungen um sich und will sie mit harter Hand vom Gift heilen. Gespielt wird der Priester von Sascha Alexander Geršak. Eine lange Auftrittsszene zeigt ihn bei der Predigt vor Junkies und Stadtstreichern, labilen, hoch gefährdeten Männern und Frauen, denen er in brutaler Direktheit einfache Antworten vorsetzt: „Ihr seid gottlose Würmer, ihr seid irrende Seelen. Und ich war auch einer von Euch: ein lebender Toter, ein toter Lebender. Ein Zombie. Ein Geier. Ein Blutsauger.“

Vielleicht bewirkt er damit ja doch eine Ein- und Umkehr, aber sicher ist das keineswegs. Der Film belässt es im Ungefähren, ja er beschreibt eher die Gefahr, die in den Methoden des selbst ernannten Therapeuten steckt, von denen statt einer heilenden eine zerstörende Wirkung ausgehen kann. Die meisten Darstellerinnen und Darsteller sind Laien, die ihr Milieu repräsentieren und eigene Erfahrungen ins Spiel einbringen: die körperlichen Schmerzen beim kalten Entzug, die schrecklichen Erinnerung an „draußen“, etwa von einer jungen Frau, deren Vater sie zu missbrauchen begann, als sie zehn Jahre alt war. Nur in wenigen Blicken glimmt noch Hoffnung auf, einmal sogar der Schalk, wie bei Angelo, der einst Mafioso gewesen sein will. Andere sind nur noch ausgebrannt, jeder seine eigene Insel im Meer der Verlorenheit.

Ein Kaspar Hauser von heute

Interaktionen zwischen den Figuren sind selten, dann aber umso heftiger. Egon freilich, dargestellt von dem Musiker Paul Arámbula, ragt aus der Legion der Vergessenen heraus.

Arámbula, dessen Figur dem Schicksal eines Heroinabhängigen aus Neukölln nachgestaltet wurde, hält im Film kaum eine Sekunde still. Egon kratzt seine Haut, verdreht und verrenkt sich. Er will nicht unter die Dusche und Essen nur manchmal; dafür schwadroniert er ununterbrochen, mit ständigen Wortwiederholungen. Und er nimmt die Jesusgeschichten des Predigers auf ganz eigene Weise ernst. Nicht als erbauliche Legende oder als Hilfsangebot, sondern als etwas, das er fast zwanghaft nach seiner subjektiven Logik befragt: „Jesus, also wenn Du über das Wasser gelaufen bist, dann hast Du Rettungsboote an den Füßen.“ Oder: „Er kann kein Wunder machen, er kann nur Tricks machen, wie David Copperfield.“ Am Ende beharrt Egon auf dem Versprechen des Predigers: Er wolle wissen, ob ihn Jesus in den Himmel aufnehme oder nicht. Er sieht sich selbst als eine Art Erlöser: „Ich bin das Licht der Welt.“ Immer tiefer driftet er in die geistige Umnachtung – was nichts anderes bedeutet als ein Scheitern des durchaus anmaßenden Therapieversuchs. Egon als ein Kaspar Hauser von heute.

„fictiondocu“: Zeigen, nicht erklären

„Jesus Egon Christus“ ist ein fragmentarischer Film, kaum eine Stunde lang. David und Saša Vajda, die ihre Methode „fictiondocu“ nennen, zeigen Vorgänge und Verhaltensweisen, ohne zu sagen, was sie bedeuten. Sie wollen nichts erklären, nichts beweisen. Dabei sind sie vom Elendsvoyeurismus weit entfernt; die tiefe Traurigkeit, die vom Milieu ausgeht, wird dank der Egon-Figur bisweilen von einer naiven, fast dadaistischen Spottlust gebrochen. Fürs deutsche Kino ist das ein ungewöhnlicher, ja irritierender Zugang zu einem sozial brisanten Problem. Frei von den Zwängen einer Dramaturgie, die das Publikum an den Händen nimmt und es brav von Station zu Station geleitet. Stattdessen hat man es in „Jesus Egon Christus“ mit lauter Bruchstücken zu tun, in gewisser Weise mit filmischem Geröll, so kantig wie jene Seelen, denen der Film gewidmet ist.

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