Drama | Frankreich 2021 | 73 Minuten

Regie: Céline Sciamma

Ein achtjähriges Mädchen trägt schwer am Tod der Großmutter, von der es sich nicht verabschieden konnte. Beim Spielen im Wald hinter dem großmütterlichen Haus freundet es sich mit einem anderen Mädchen an, in dem es seine eigene Mutter als Kind erkennt; gemeinsam finden sie einen Weg aus der Trauer. Der dichte, intensive Film ist ganz aus der kindlichen Perspektive erzählt und kümmert sich nicht um eine Erklärung des Wunderbaren, sondern nimmt es als Wirklichkeit einer inneren Reise, die an spirituell-transzendente Grenzen rührt. - Sehenswert ab 8.
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Filmdaten

Originaltitel
PETITE MAMAN
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Lilies Films/France 3 Cinéma
Regie
Céline Sciamma
Buch
Céline Sciamma
Kamera
Claire Mathon
Musik
Jean-Baptiste de Laubier
Schnitt
Julien Lacheray
Darsteller
Joséphine Sanz (Nelly) · Gabrielle Sanz (Marion) · Nina Meurisse (Mutter) · Stéphane Varupenne (Vater) · Margot Abascal (Großmutter)
Länge
73 Minuten
Kinostart
17.03.2022
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 8.
Genre
Drama | Jugendfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Alamode (16:9, 1.85:1, DD5.1 frz./dt.)
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Ein Mädchen, das unter dem Tod der Großmutter leidet, begegnet im Wald einem anderen Mädchen, in dem es seine eigene Mutter erkennt, und findet mit ihm gemeinsam einen Weg aus der Trauer.

Diskussion

Nelly und ihre neue Freundin Marion sitzen im Wald, nahe des Baumhauses, das sie gemeinsam errichtet haben. Die beiden achtjährigen Mädchen haben sich im Wald kennengelernt. Marion hat Nelly schnell in ihr Bauprojekt integriert und sie mit nach Hause genommen. Jetzt aber will sie wissen: „Können wir nicht auch mal zu dir gehen?“ Nelly guckt betreten zu Boden: „Lieber nicht, da ist schlechte Stimmung.“ Auf den ersten Blick kaum der Rede wert, steckt der ganze Film in diesem kleinen Moment. Denn die Handlung von „Petite Maman“ ist aus einer schlechten Stimmung geboren, und in Marions Frage verbirgt sich eine weitaus größere: Wollen wir nicht langsam mal wieder in die Gegenwart zurückkehren? Denn der Film von Céline Sciamma ist nicht zuletzt ein Zeitreise-Film.

Ein Abschied ohne „Au revoir!“

In Nellys Haus herrscht schlechte Stimmung, weil ihre Großmutter gestorben ist. Die Inszenierung benötigt nur eine kurze Sequenz, um diesen Umstand als Zentrum des Films zu etablieren. Im ersten Bild hilft Nelly einer älteren Frau beim Kreuzworträtsel, dann verabschiedet sie sich von ihr, dann von zwei anderen Frauen in zwei anderen Zimmern: „Au revoir!“ Im nächsten Raum sitzt allerdings keine Oma, sondern eine jüngere Frau räumt auf. Sofort ist klar: Hier ist jemand gestorben. Und Nelly hat nicht „Au revoir“ gesagt.

Das macht der Kleinen zu schaffen, die sich gerne von ihrer Großmutter verabschiedet hätte. „Petite Maman“ ist gewissermaßen der Umweg, mit dem ihr ein Abschied ermöglicht wird. Denn wo der Tod den Möglichkeiten des Lebens eine endgültige Grenze setzt, kann das Kino mit seiner Vorstellungskraft diese Grenze wieder einreißen. Céline Sciamma bedient sich in ihrem fünften Film merklich bei den Fabeln des Studio Ghibli, in denen Kinder durch fantastische Ereignisse und Reisen in Zauberländer eine Lektion fürs Leben oder mit dem Elend der Welt umzugehen lernen.

Wie in einem nicht-animierten Miyazaki-Film verliert Nelly sich also in dem Wald, der sich um das ehemalige Haus der Großmutter erstreckt, das Nellys Eltern gerade ausräumen. Für den Übergang ins Fantastische braucht „Petite Maman“ keine visuellen Effekte und keine Markierungen des Zeitenwechsels. Es ist die filmische Montage selbst, die Vergangenheit und Gegenwart hier miteinander vernäht, und die grundsätzliche Stimmung des Films; die paar Dinge, die man über Nelly und ihre Familie weiß, reichen völlig aus, um zu verstehen: Das Mädchen, dem Nelly im Wald begegnet, ist ihre Mutter als Kind, die „kleine Mutter“ des Filmtitels. Zwischen Mutter-Kind und Tochter-Kind entspinnt sich fortan eine intuitive Freundschaft, eine Annäherung, die zugleich eine kindliche Vorstellung von der eigenen Mutter als Kind ist wie auch kindliche Trauerarbeit. Dieser kindlichen Perspektive bleibt „Petite Maman“ bis zum Schluss treu, und der Film nimmt sie vor allem äußerst ernst.

Ein Hirngespinst im besten Sinne

Nach dem episch angelegten, in ikonischen Bildern schwelgenden „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ könnte der Film kleiner und einfacher nicht sein, doch gerade hierin versteckt sich eine große Kunst. Wo das „Porträt“ eine ganze Kulturgeschichte des Verhältnisses von Weiblichkeit und Kunst, eine ganze Theorie des männlichen Blicks und eine Utopie seiner filmischen Umkehrung mit sich trug und zugleich eine Liebesgeschichte so groß wie Titanic erzählen wollte, ist „Petite Maman“ eine Geschichte, die einzig und allein aus der Fantasie eines kleinen Mädchens geboren ist, das mit dem Tod der Großmutter umgeht. Ein Hirngespinst, im besten Sinne.

Damit ist „Petite Maman“ nicht nur eine wunderbar intime Variation des Motivs der Zeitreise, eine perfekte Produktion für Lockdown-Umstände (auch wenn die Idee älter als die Pandemie ist), sondern auch eine Rückkehr zu den Coming-of-Age-Filmen „Water Lilies“, „Tomboy“ und „Mädchenbande“, mit denen Sciamma bekannt geworden ist. „Petite Maman“ ist aber auch eine Weiterentwicklung, denn auch oder gerade weil der Film sich so klein anfühlt, spürt man, wie sicher seine Regisseurin mittlerweile die Sprache des Kinos mit ihrem eigenen Akzent spricht.

Nelly bringt ihre neue Freundin (die beiden werden von zwei Schwestern gespielt) irgendwann doch mit nach Hause, versöhnt Vergangenheit und Gegenwart miteinander – und irritiert ihren Vater, der das kleine Mädchen, das irgendwann einmal seine Frau sein wird, entgeistert ansieht. Auch solche witzig-paradoxen Momente stehen ganz im Geiste eines Films, der im Kern eine einfache Lektion bereithält: dass Weltflucht nicht immer schädlich, sondern manchmal sehr notwendig ist – und dass sie früher oder später wieder im Leben landet.

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