Science-Fiction | Deutschland/Schweiz 2021 | 104 Minuten

Regie: Tim Fehlbaum

Zwei Generationen, nachdem der wohlhabende Teil der Menschheit ins All geflüchtet ist, kehrt eine Astronautin auf die Erde zurück, um die Chancen einer Rückkehr auszuloten. Inmitten einer endlosen Wattlandschaft aus Nebel, Wasser und Matsch trifft sie auf verfeindete Stämme und autoritäre Strukturen, die sie vor moralische Dilemmata stellen. Der visuell-atmosphärisch markante Science-Fiction-Film ringt inmitten einer postapokalyptischen Schlamm-Szenerie mit erstaunlich irdischen Themen wie Fruchtbarkeit oder der Kraft der Natur und kreist um die Spannung zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem Wohl der Spezies. Dramaturgisch bleibt allerdings manches im Ansatz stecken. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
TIDES
Produktionsland
Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
BerghausWöbke Filmprod./Vega Film/Constantin Film/Studio Babelsberg/SRF
Regie
Tim Fehlbaum
Buch
Tim Fehlbaum · Mariko Minoguchi
Kamera
Markus Förderer
Musik
Lorenz Dangel
Schnitt
Andreas Menn
Darsteller
Nora Arnezeder (Blake) · Iain Glen (Gibson) · Sarah-Sofie Boussnina (Narvik) · Sope Dirisu (Tucker) · Joel Basman (Paling)
Länge
104 Minuten
Kinostart
26.08.2021
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Science-Fiction
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Constantin/Universal
Verleih Blu-ray
Constantin/Universal
DVD kaufen

Zwei Generationen, nachdem der wohlhabende Teil der Menschheit ins All geflüchtet ist, kehrt eine Astronautin auf die Erde zurück, um die Chancen einer Rückkehr auszuloten.

Diskussion

Ein Absturz aus großer Höhe. Ganz sauber ist die Landung nicht, mit der eine Raumkapsel zu Beginn in steilem Winkel auf die Erde niederschießt. Ein Zwischentitel informiert, dass der blaue Planet durch Klimakatastrophen und Pandemien so sehr verwüstet wurde, dass die Menschheit in den Weltraum fliehen musste. Genau gesagt: ihr besser gestellter Teil. Die Weißen und die Wissenschaftler. Sie leben nun auf einer Weltraumkolonie namens „Kepler 209“. Der große Rest der Bevölkerung wurde auf der für unbewohnbar gehaltenen Erde sich selbst überlassen.

Rund zwei Generationen später kehrt eine Erkundungsmission mit dem Namen „Ulysses 2“ auf die Erde zurück, um zu sehen, was von ihr übrigblieben ist, und um zu sondieren, ob eine Rückkehr in Frage kommt. Denn auch im Weltraum gibt es Probleme. Kosmische Strahlung macht die Menschen auf „Kepler 209“ zunehmend unfruchtbar. Zudem herrscht ein rigides Regime, das das Leben in der Kolonie noch unattraktiver erscheinen lässt. Zwar wird dort wissensbasiert und rational gehandelt, doch zugleich sind Individualismus und persönliche Gefühle unterdrückt. Der Einzelne zählt hier nichts, die Gattung ist alles; die "Gemeinschaft“, oder wie es in der Originalfassung von „Tides“ heißt: „The Many“.

Eine Frau im gebärfähigen Alter

Die Hauptfigur ist Louise Blake, eine junge Frau, deren Vater vor gut 15 Jahren die erste „Ulysses“-Mission leitete, von deren Schicksal seitdem nichts bekannt ist. Seine Tochter folgt ihm als Astronautin jetzt im zweiten Versuch nach. Auch deshalb, weil sie vergleichsweise jung ist und damit im Prinzip gebährfähig. Junge Frauen sind für „Kepler 209“ besonders wertvolle Körper zur Fortpflanzung, denn das Durchschnittsalter liegt bei 40 Jahren.

Erstaunlich irdische Themen dominieren damit diesen Science-Fiction-Film: Fruchtbarkeit, Mutterschaft, Vaterschaft – und die Kraft der Natur. Denn die titelgebenden „Tides“, also die Gezeiten, Ebbe und Flut, bestimmen das Leben der auf der Erde übriggebliebenen Menschen. Sie fristen im Schlamm eines endlosen Wattenmeers ihr Dasein, essen rohe Krebse und Fischsuppen und warten, wenn die Flut kommt, auf grob zusammengezimmerten Schiffen, bis sich das Meer wieder zurückzieht.

Kurz nach der Landung wird Blake als die einzige Überlebende der Ankömmlinge von den „Schlammmenschen“ gefangen. Während sie deren Leben kennenlernt, versucht ihr Vertrauen zu gewinnen und eine Mitteilung zu ihrer Heimatkolonie zu schicken, erfährt sie auch mehr vom Schicksal ihres Vaters und der ersten Ulyssses-Mission.

Alte Fragen stellen sich neu

Auf der Erde wird die Astronautin unerwartet auch mit ihren eigenen Instinkten konfrontiert und muss sich schwierigen moralischen Herausforderungen stellen. Mehr und mehr stellt sich nämlich die Frage nach der Zukunft der Menschheit in neuer, differenzierter Weise. Denn auch nach dem Untergang der Zivilisation existieren auf der Erde verschiedene Klassen und Lebensweisen; Macht, Gewalt und autoritär-repressive Verhältnisse sind keineswegs verschwunden. Ist ein Neuanfang möglich? Soll man die elitären „Kepler“-Verhältnisse auf die Erde holen, oder lieber „bei Null“ anfangen, im Schlamm und mit allenfalls archaischer Technik?

Blake rückt in die Position eines weiblichen Messias, der die Menschheit auf die eine oder andere Weise erlösen könnte, spürt aber auch die Last dieser Entscheidung allein auf ihren eigenen Schultern liegen. Selbst eine Art himmlischen Vater gibt es hier - zunächst nur in Form von Erinnerung und in Selbstgesprächen. Irgendwann taucht der Vater dann aber (nicht völlig überraschend) leibhaftig auf; er hat die erste „Ulysses“-Mission überlebt, wurde wegen abweichender Ansichten über die Fortsetzung der Mission aber interniert. Nun stellt sich auch für Blake die Frage, wie sie sich zwischen den Autoritäten entscheiden soll.

Mischung aus Action und Poesie

Science-Fiction ist ein Genre, das über Jahrzehnte nahezu komplett von Hollywood dominiert wurde. In den letzten Jahren aber haben sich die Gewichte ein wenig verschoben. Bemerkenswerte Science-Fiction-Filme tauchen inzwischen auch in anderen Kinematografien auf. Einer davon war „Hell“ (2011) des Schweizer Regisseurs Tim Fehlbaum, der mit seinem Regiedebüt bewies, das glaubwürdig inszenierte apokalyptische Science-Fiction nicht aus den USA kommen muss. Sein zweiter Film „Tides“, eine deutsch-schweizer Co-Produktion, knüpft daran nun an. Es ist ein weiterer Versuch, dem in Deutschland trotz einer großen Vergangenheit – man denke nur an „Metropolis“ - stiefmütterlich behandelten Genre unter Low-Budget-Bedingungen neues Leben einzuhauchen.

„Tides“ ist weitgehend gelungen und lebt vom Atmosphärischen. Visuell ist der Film eine Mischung aus Action und Poesie; der Entwurf eines zerstörten Planeten, auf dem alles feucht und nebelig ist, schmutzig und kühl, wirkt äußerst überzeugend. Die Bilder sind eindrucksvoll, der Soundtrack exzellent. Auch die französische Hauptdarstellerin Nora Arnezeder überzeugt, deren Auftritt an die Stars des Genres, etwa Sigourney Weaver, in den „Alien“-Filmen denken lässt.

„Tides“, der immer wieder auch auf Vorbilder des postapokalyptischen Films wie „Mad Max“, „Children of Men“ oder „Waterworld“ anspielt, woraus sich eine gradlinig erzählte spannende Handlung entwickelt, nimmt sein Szenario nicht als Vorwand für platte Action, sondern rührt in seinen nachdenklicheren Passagen an viele Themen: Rebellion und Autoritarismus, Eugenik und die Idee des „richtigen Menschen“, die Frage nach der Freiheit des Einzelnen und danach, ob das Überleben der Spezies alle Mittel heiligt.

Gewisse Probleme liegen im Drehbuch und in Fragen der Handlungslogik. Insbesondere die Organisation der filmischen Zeit lässt manchmal zu wünschen übrig. Weder versteht man, wann genau ein Teil der Menschheit die Erde verlassen hat, noch ist schlüssig dargestellt, wie viel Zeit zwischen Blakes Landung und dem Ende des Films vergeht. Nur ein paar Tage? Oder doch eher Wochen und Monate?

Während man „Tides“ sieht, stellen sich solche Fragen allerdings nicht. Das zeigt wie, wie geglückt und zwingend die Inszenierung ist. „Tides“ ist ein ambitionierter, gut inszenierter, atmosphärisch starker Film, der mit tollen Bildern einer untergehenden Welt aufwartet. Ungewöhnliches Kino aus Deutschland.

Kommentar verfassen

Kommentieren