Bir Başkadır - Acht Menschen in Istanbul

Drama | Türkei 2020 | (acht Folgen) Minuten

Regie: Berkun Oya

Ein achtteiliges Sozialdrama, das der modernen türkischen Gesellschaft den Spiegel vorhält. Im Zentrum steht eine junge Putzfrau aus dem Arbeitermilieu, die in bescheidenen Verhältnissen in einem Istanbuler Vorort lebt und sich nach einer Familienkrise auf dem Therapiestuhl einer Psychologin wiederfindet. Die ist in bourgeoisen Kreisen großgeworden und wesentlich privilegierter als ihre Patientin, kämpft aber ebenfalls mit zahlreichen Problemen und reibt sich am konservativen Geist in der türkischen Gesellschaft. Rund um die beiden Frauen entfaltet sich ein facettenreiches Panorama. Die Serie glänzt durch fein schattierte Charakterdarstellungen und eine scharfe Beobachtungsgabe. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BIR BASKADIR
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Krek Film
Regie
Berkun Oya
Buch
Berkun Oya
Kamera
Yagiz Yavru
Musik
Cem Yilmazer
Schnitt
Ali Aga
Darsteller
Öykü Karayel (Meryem) · Fatih Artman (Yasin) · Funda Eryigit (Ruhiye) · Defne Kayalar (Peri) · Settar Tanriögen (Ali Sadi Hoca)
Länge
(acht Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Serie

Achtteilige Serie um eine Putzfrau und eine Psychologin aus Istanbul, die ein facettenreiches Bilder der modernen türkische Gesellschaft entwirft.

Diskussion

Auch die Türkei ist vom Serienboom erfasst worden und exportiert Fernsehproduktionen ins Ausland. Während die meisten davon Seifenopern-Glanz und eine Mischung aus traditionell-religiösem Fundament und modern-glamourösem Lebensstil präsentieren, bricht die Serie „Bir Başkadır“ von Berkun Oya mit den Sehgewohnheiten des türkischen Publikums. Das achtteilige Sozialdrama hält der modernen türkischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Die Serie brilliert nicht nur durch eine fein schattierte Charakterdarstellung, langsame Kameraführung und visuell ansprechende Kulissen, sondern ihr liegt auch eine im türkischen Mainstream-Kino selten anzutreffende Beobachtungsgabe zugrunde.

Eine Putzfrau trifft auf eine Psychologin

Im Zentrum steht Meryem, eine junge Putzfrau aus dem Arbeitermilieu, die in bescheidenen Verhältnissen in einem Istanbuler Vorort lebt und sich nach einer Familienkrise auf dem Therapiestuhl von Peri wiederfindet. Peri ist eine Psychologin, die in bourgeoisen Kreisen großgeworden ist — das Paradebeispiel einer „beyaz türk“, einer „weißen Türkin“, wie man die westlich ausgebildeten, europäisch geprägten und säkular eingestellten Türken nennt.

Die geschwätzige Meryem ruft in Peri eine lang aufgestaute Wut gegenüber den religiös eingestellten Schichten hervor; unter anderem regt Peri sich darüber auf, dass „die Konservativen jetzt überall sind, selbst an der Macht“. Meryems Arbeitgeber Sinan wiederum ist ein wohlhabender, jedoch depressiver Womanizer, dessen Penthouse-Wohnung ein so abgehobenes Universum darstellt, dass man sich fragt, ob der reiche Macho und seine Putzfrau wirklich in ein und derselben Stadt leben.

Detailverliebtheit und vielschichtige Charaktere

Die Symbolsprache und Detailverliebtheit von „Bir Başkadır“ erinnern an die Filme von Asghar Farhadi, in Teilen auch an die Werke von Nuri Bilge Ceylan. Regisseur Berkun Oya, der lange für das Theater arbeitete, führt einen Charakter nach dem anderen ein, Menschen, deren Schicksale über Meryem auf überraschende Weise miteinander verwoben sind; darunter ein gutmütiger Imam aus der Nachbarschaftsmoschee, dessen Tochter heimlich lesbisch ist, ein Vergewaltigungsopfer, das die traumatische Vergangenheit zu bewältigen versucht, eine Soap-Opera-Schauspielerin aus der Istanbuler Schickeria und eine zutiefst zerstrittene kurdische Mittelklassefamilie.

Untypisch für türkische Serien ist ebenfalls, dass die Persönlichkeiten in „Bir Başkadır“ allesamt Antihelden sind — Menschen mit Ecken, Kanten und Traumata. In den acht Folgen begegnen sich die unterschiedlichsten Figuren im Betondschungel von Istanbul und wissen dabei erschreckend wenig voneinander. Eines allerdings haben sie alle gemeinsam: Sie sind gefangen in ihrer jeweils eigenen Gefühlswert und finden nicht die Kraft, das, was in ihnen vorgeht, auszudrücken. Dadurch sprechen sie so lange aneinander vorbei, bis es irgendwann zu viel ist und die Emotionen überkochen.

Ein weiteres Novum ist, dass Meryem als Hauptfigur ein Kopftuch trägt. In türkischen Mainstream-Serien wäre dieses schlicht wirkende, aber explosive Detail undenkbar. Selbst das religiöse Publikum bevorzugt in der Türkei Schauspielerinnen mit offenem Haar, da diese dem Schönheitsideal der Werbung entsprechen und zudem im Film frei und öffentlich küssen können.

Hitzige Debatten entlang der Bruchlinien

Mit dem Aufbrechen von Stereotypen und Klischees hat „Bir Başkadır“ in der Türkei eine breite Diskussion hervorgerufen. Wochenlang gab es hitzige Debatten in sozialen Netzwerken, wobei die gleichen Bruchlinien zu Tage traten, die auch in der die Serie eine Rolle spielen. So regten sich manche Intellektuelle über die negative Darstellung des türkischen Bildungsbürgertums auf, während andere kritisierten, dass Frauen mit Kopftuch im Film zumeist einfach gestrickte Persönlichkeiten seien. Islamisch-konservative Medien, die der Regierung nahestehen, prangerten die Serie hingegen wegen „Sittenlosigkeit“ an.

Es ist ziemlich sicher, dass „Bir Başkadır“ cineastischen Vorbildcharakter hat und mit seinem Erfolg junge Filmemacher zu ähnlichen Experimenten inspirieren wird. Der Streamingdienst Netflix bietet der türkischen Filmszene eine finanziell attraktive und weniger reglementierte Plattform, die nicht mit denselben staatlichen Beschränkungen belegt ist wie das türkische Staatsfernsehen, weshalb Szenen mit Alkohol- und Zigarettenkonsum, allzu freizügige Kleidung oder sexuelle Handlungen nicht reglementiert werden.

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