Songs My Brother Taught Me

Drama | USA 2015 | 98 Minuten

Regie: Chloé Zhao

Ein junger Mann und seine kleine Schwester, die zu den Lakota Sioux gehören, wachsen im Pine Ridge Reservat in South Dakota auf. Nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters und während ihr älterer Bruder im Gefängnis sitzt, haben die Jugendlichen und ihre Mutter mit den harschen Lebensbedingungen vor Ort zu kämpfen. Der Debütfilm von Chloé Zhao taucht mit dokumentarisch anmutender Genauigkeit und einem Ensemble aus Laiendarstellern in eine Lebensrealität jenseits des Amerikanischen Traums ein. Dabei hat das Porträt nicht nur einen scharfen Blick für die Härten im Alltag seiner Protagonisten, sondern nähert sich diesen auch mit großer Empathie und bei aller Nüchternheit mit einem Sinn für Poesie. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SONGS MY BROTHER TAUGHT ME
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Forest Whitaker's Significant Prod./HEART-headed Prod./Highwayman Films/Nifty Prod./Standalone Prod.
Regie
Chloé Zhao
Buch
Chloé Zhao
Kamera
Joshua James Richards
Musik
Peter Golub
Schnitt
Alan Canant · Chloé Zhao
Darsteller
John Reddy (Johnny Winters) · Jashaun St. John (Jashaun Winters) · Irene Bedard (Lisa Winters) · Eleonore Hendricks (Angie LaPrelle)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Intensives Porträt zweier Geschwister aus dem Pine Ridge Reservat in South Dakota, die unter schwierigen Lebensbedingungen um Glück und Perspektiven ringen.

Diskussion

Der Wind war schon immer da. Er trocknet die Böden aus, treibt Sand über Straßen, zieht an Holzhäusern ohne Fundament vorbei und über die weite Graslandschaft der Prärie in die Canyons hinein. Die Wolken, so sagen die Alten, kündigen die großen Stürme an. Auch Johnny hat gelernt, wie man den Himmel liest. „And when the wind is too strong, we all know to lean into it, so it doesn’t blow us away”, sagt er.  Sich nicht umwehen lassen, auch nicht im stärksten Sturm, das ist eine notwendige Überlebensstrategie im Pine Ridge Reservat, das im Südwesten von South Dakota liegt.

Denn es ist nicht nur der Wind, der an den dort lebenden Lakota rüttelt. Dort zerren auch Armut, Perspektivlosigkeit, Kriminalität, zerrissene Familien an den Menschen – und der Wodka, den Johnny für ein paar Dollar in mitgebrachte Plastikflaschen abfüllt, obwohl Alkohol im Reservat verboten ist. Mit dem Geld hält er seine Mutter und seine Schwester Jashaun über Wasser, kann sich schließlich sogar ein Auto kaufen. Nach der High School will er nämlich weg, zusammen mit seiner Freundin nach Los Angeles. Noch weiß niemand davon, auch nicht seine jüngere Schwester Jashaun, die er innig liebt und die ohne ihn sehr allein sein wird.

Eine Lebensrealität jenseits des „American Dream“

„Songs My Brother Taught Me” erzählt von den beiden Geschwistern, die sich gegenseitig Halt geben, während sich ihr Leben verändert und sie herausfordert. Zuhause liegt ihre alleinerziehende Mutter; der ältere Bruder sitzt im Knast, ihr Vater Carl reitet Rodeos. Er ist nicht präsent im Leben seiner Kinder, aber als er unerwartet stirbt, hinterlässt er doch eine Leerstelle, steht Jashaun mit Tränen in den Augen in den Trümmern seines niedergebrannten Hauses. Geradezu beiläufig geht es in Chloé Zhaos Debütfilm aber auch um eine Lebensrealität, in der der amerikanische Traum nicht vorgesehen ist, um die Verwurzelung der indigenen Community in einer Kultur, die mit aller Gewalt fast ausgelöscht wurde (in Pine Ridges fand 1890 auch das Massaker von Wounded Knee), von sozialen Abhängigkeiten und Verpflichtungen, die einen festhalten und nicht ausbrechen lassen.

„Die Wahrheit war alles, was wir uns leisten konnten“

Doch nie will der Film belehren, nie lenkt er den Blick nur auf das Trostlose. Stattdessen begegnet Zhao ihren Figuren mit großer Empathie, lässt ihnen ihre Integrität und einen Alltag, in dem auch das Schöne und Zärtliche seinen Platz hat. Im Interview mit dem Magazin des Walker Art Centers in Minneapolis verweist die Regisseurin darauf, dass sie wegen ihres geringen Budgets nur das filmen konnte, was vor Ort war. „Truth was all we could afford.“ Das mag erklären, warum dem Film, der sich aus vielen Momentaufnahmen zusammensetzt, etwas Dokumentarisches anhaftet, zumal fast der gesamte Cast aus dem Reservat stammt, so auch John Reddy und Jashaun St. John, im Film Bruder und Schwester. Persönliches ist in ihre Figuren eingeflossen, Mitglieder ihrer Familien haben mitgespielt, und das eigene Elternhaus wurde zum Filmset. Das Biografische und die Fiktion fließen im Film ineinander. „Dicht am realen Leben zu bleiben, ermöglichte mir, einer Außenseiterin, einen Film aus der Binnenperspektive zu machen”, erklärt die Regisseurin ihre Strategie. Chloé Zhao, die in Peking geboren wurde und in New York studiert hat, zeigt in „Songs My Brother Taught Me“ ein Amerika, das wenig Glamour hat, und sie tut dies mit Bildern, die einen nicht loslassen.

Momente flirrender Augenblicklichkeit

Wie schon in ihrem Nachfolgefilm „The Rider“ (2017), ebenfalls im Pine Rigde Reservat angesiedelt, und in ihrem aktuellen, für mehrere „Oscars“ nominierten „Nomadland“ (2020) hat Chloé Zhao mit dem britischen Kameramann Joshua James Richards zusammengearbeitet, der gerne mit natürlichem Licht arbeitet und mit seiner Kamera immer wieder Momente größter Intimität wie auch flirrender Augenblicklichkeit kreiert. Er heftet sich an die Menschen, zeigt ihre Gesichter, verharrt kurz auf Details, um dann in Totalen die wilde Weite der Landschaft zu zeigen und zum Umherschauen einzuladen. Der nüchterne Blick wird begleitet von einem Sinn für Poesie und einem Hauch Melancholie. Unweigerlich erinnert „Songs My Brother Taught Me“ an Filme von Terrence Malick, aber Chloé Zhao überhöht nicht, versteigt sich nicht im Transzendenten, bleibt mit ihrer Geschichte ganz im Hier und Jetzt und somit bei Johnny, Jashaun und ihrem „Rez Life“, ihrem Leben im Reservat.

 

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