Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | 78 Minuten

Regie: Sobo Swobodnik

Der Filmemacher Sobo Swobodnik rekonstruiert mit experimentellen Mitteln seine Biografie als Beispiel für einen sozialen Aufstieg aus prekären Verhältnissen in ein großstädtisch-intellektuelles Milieu, in dem er nie richtig angekommen ist. Der formal einfallsreiche Essayfilm auf den Spuren einschlägiger soziologisch-literarischer Studien reflektiert über die schmerzhaften Folgekosten gesellschaftlicher Emanzipationsprozesse, wobei er verschiedene Haltungen durchspielt und Widersprüche, Zwänge und Ungleichzeitigkeiten sozialer Veränderungen offenlegt. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Guerilla Film Koop.
Regie
Sobo Swobodnik
Buch
Sobo Swobodnik
Kamera
Elias Gottstein · Sobo Swobodnik
Musik
Elias Gottstein
Schnitt
Manuel Stettner
Darsteller
Margarita Breitkreiz · Lars Rudolph
Länge
78 Minuten
Kinostart
07.10.2021
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Der Filmemacher Sobo Swobodnik rekonstruiert mit experimentellen Mitteln seine Biografie als Beispiel für einen sozialen Aufstieg aus prekären Verhältnissen in ein großstädtisch-intellektuelles Milieu, in dem er nie richtig angekommen ist.

Diskussion

„Die Spuren dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Deshalb bedeutet die Rückkehr in ein Herkunftsmilieu, aus dem man hervor- und von dem man fortgegangen ist, immer auch eine Umkehr, eine Rückbesinnung, ein Wiedersehen mit einem ebenso konservierten wie negierten Selbst. Es tritt dann etwas ins Bewusstsein, wovon man sich gerne befreit geglaubt hätte, das aber unverkennbar die eigene Persönlichkeit strukturiert: das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist, koexistieren.“ Das schreibt Didier Eribon in seiner unerhört wirkmächtigen Studie „Rückkehr nach Reims“ (2009/2016), in der er die These vertritt, dass man sich dem daraus resultierten „gespaltenen Habitus“ besser mit den Mitteln der Soziologie als denen der Psychologie nähern könne.

Der Blick zurück

Eribons Studie hat weitere Bücher über subjektive Klassenkämpfe von Annie Ernaux oder Christian Baron nach sich gezogen, die davon erzählen, dass ein erfolgreicher Milieuwechsel im Zeichen des sozialen Aufstiegs mehrere Generationen braucht, weil diejenige, die die ersten Schritte wagen, oftmals zwischen den Milieus ohne Zugehörigkeit hängenbleiben. Da die Bildungsreformen der 1970er-Jahre den sogenannten Babyboomern genau diese soziale Dynamik und ihre Folgen aufbürdeten, dürften vergleichbare autobiografische Reflexionen und Recherchen noch einige Zeit Konjunktur haben.

Genau davon erzählt jetzt der Filmemacher, Schriftsteller und Schauspieler Sobo Swobodnik in dem sehr subjektiven, allerdings durchaus aufs Verallgemeinerbare weisenden experimentellen Essayfilm „Klassenkampf“. Swobodnik rekonstruiert im Rückblick seine Biografie, seine Loslösung vom Herkunftsmilieu, wichtige biografische Entscheidungen und die fortwährende Einsicht, im neuen, gehobenen Milieu nicht angekommen zu sein und wohl auch nicht ankommen zu können.

1966 geboren und aufgewachsen in ärmlich-prekären Verhältnissen in einem Dorf auf der katholisch geprägten Schwäbischen Alb, besuchte Swobodnik – gegen sein Milieu, das frühe Lohnarbeit präferierte – eine weiterführende Schule in Aalen, entdeckte die Sprache und die Literatur – gegen den heimatlichen Dialekt – als Freiheitsräume. In der Folge ging es nach München an die Schauspielschule, später nach Berlin. Die Kehrseite dieser Emanzipation vom Herkunftsmilieu sind eine ganze Reihe von Ungleichzeitigkeiten, Dynamiken, Zwängen und Widersprüchen, die Swobodnik mit filmischen Mitteln zu erkunden versucht.

Anderswelten: Margarita Breitkreiz & Lars Rudolph

Für seine Recherche kehrt Swobodnik noch einmal auf die Alb ins Elternhaus zurück, allerdings in Gestalt der Schauspielerin Margarita Breitkreiz. Vielleicht auch, weil Swobodniks Eltern sich eine Tochter gewünscht hatten. Zur Veranschaulichung pluraler und divergierender Perspektiven nutzt der Filmemacher diverse Verfremdungseffekte. So multipliziert er die Protagonistin in einer Einstellung, lässt sie mehrere Dinge räsonierend gleichzeitig tun, lässt sie aber auch qua Texthänger aus der Rolle fallen. Auf einer zweiten Ton- und Bildspur werden theoretische Texte von Freud bis Bourdieu einlesen, gesprochen vom unvergleichlich einnehmenden Lars Rudolph, der aber Stimme bleibt.

Zudem lädt Swobodnik einschlägige Interviewgäste wie Daniela Dröscher, Michael Hartmann oder Annie Ernaux zu Gesprächen vor die Kamera, die dann allerdings allesamt gleichfalls von Margarita Breitkreiz „gespielt“ werden. Die subjektiven Impressionen über Mentalität, Habitus und Werte werden so mit Meta-Perspektiven angereichert, die immer neue Widersprüche aufblitzen lassen, wobei auch Begegnungen mit beispielsweise Hermes Phettberg eine Rolle spielen.

Fast wie eine Zeitreise

Mancherlei Haltungen werden hier durchgespielt und reflektiert: Wut auf die Verhältnisse, schamvolles Beschweigen der Herkunft oder auch Provokation des neuen Milieus durch betont proletarisches Gebaren. In einer schönen Anekdote führt der Filmemacher vor Augen, dass die urbanen und ländlichen Milieus sich auf eine Weise ausdifferenziert haben, die in der Konfrontation an eine Zeitreise denken lässt. Und dass die bundesdeutsche Gesellschaft entgegen aller marktwirtschaftlich-neoliberalen Einflüsterungen eine Klassengesellschaft ist. Was ja auch durch und während der Corona-Pandemie so virulent wurde, dass es nicht mehr wegzumoderieren war.

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