Eine letzte Sandburg wollen sie noch bauen, bevor sie zurück ins Hotel gehen. Kein ungewöhnliches Verhalten für ein Geschwisterpaar, das jetzt kein gewöhnliches Geschwisterpaar mehr ist. Die 11-jährige Maddox und der 6-jährige Trent sind alt. Die paradiesische Bucht, an der sie gestrandet sind, hat sie, ihre Eltern Prisca (Vicky Krieps) und Guy (Gael Garcia Bernal) und die anderen Hotelgäste, denen dieser „Geheimtipp“ mitgeteilt wurde, in nur wenigen Stunden um Jahrzehnte altern lassen.
„Sandburg“ heißt auch die Graphic-Novel-Vorlage, die zu M. Night Shyamalans Twilight-Zone-artigem, auf große Volten ausgerichtetem Mystery-Kino passt wie die Faust aufs Auge. Zunächst sind besagte Hotelgäste am Strand gefangen. Vor ihnen die See, hinter ihnen eine bizarre Klippenformation und deren schmaler Durchgangs-Tunnel, der alle Fluchtversuche auf ebenso rätselhafte Weise verhindert, wie der Strand die Menschen altern lässt. Shyamalan braucht – das war schon immer seine große Stärke – nicht viel, um die Präsenz der unsichtbaren Anomalie spürbar zu machen. Ein Mann steht etwas deplatziert im Hintergrund und ein Gegenschuss fehlt. Die Kamera verharrt auf Prisca, die ungläubig ihre Kinder anstarrt, wendet sich dann einem Streit zwischen den Hotelgästen zu und kehrt erst wieder zu Maddox und Trent zurück, als diese bereits den Sprung zur Jugend gemacht haben, der den Figuren unumstößlich beweist, was das Publikum bereits vor der Vorstellung weiß: der Strand ist ein Gefängnis, das im unsichtbaren Zeitraffer etwa ein Dutzend Menschenleben auf knapp einen Tag reduziert.
Keine Zeit für die Sinnfrage
Für die sonst fast reflexartig dazugedachte Sinnfrage haben die Urlauber erstmal keine Zeit. Bald machen sich die ersten Anzeichen des körperlichen und geistigen Verfalls bemerkbar. Der Arzt möchte über Filme reden, während er die Notoperation eines in wenigen Minuten auf Fußballgröße gewachsenen Tumors vorbereitet. Die dazugehörige Schnittwunde verheilt schneller als das Skalpell eindringen kann. Shyamalan nutzt die zeitliche Verdichtung als Labor für die Effekte, die physiologische Vorgänge und Krankheiten auf den menschlichen Körper haben. Passend dazu positioniert sich der Regisseur in seinem Cameo-Auftritt auf nahegelegenen Klippen, um durch das Objektiv einer Kamera dem Geschehen folgen zu können.
Im besten Fall ist das, was Shyamalan zeigt (und mit Freude beobachtet) groteskes Horrorkino. Die absurdesten Ideen sind dann auch sichtbar die besten: eine beschleunigte Schwangerschaft und ein auf Jahre ausgedehnter epileptischer Anfall sind schlagende Bilder für das verstörende Schicksal, das die Gruppe erleidet. Mike Gioulakis’ Kamera agiert dabei, als wäre sie Teil dieser Gruppe. Als würde sie dem eigenen Willen folgen, wendet sie sich immer wieder vom Geschehen ab, verlässt den einen Teil der Gruppe oder hastet als erste einem Hilfeschrei zum anderen Ende des Strands hinterher.
Die Familie gegen die Grausamkeit der Zeit
Der Versuch, wann immer möglich, die Kontinuität und damit die unerbittliche Grausamkeit der Zeit aufrechtzuerhalten, gelingt dem Film immer dort, wo Fleisch und Knochen ihr zum Opfer fallen. Die zum beschleunigten Bodyhorror gehörende psychologische Komponente wird dann in den klassischen Familienentwurf kanalisiert. Als die fragile Allianz zwischen den Touristen zu bröckeln beginnt, ist es die Familie, die sich wie im Katastrophenfilm als letztes Bollwerk der Menschlichkeit erweist, als letzte Form des Zusammenhalts, die über die Zeit hinweg Schmerz, Enttäuschung und Verletzung erträgt.
Die Aufrichtigkeit, mit der Shyamalan seinen Film sichtbar in diese Richtung treibt, droht in den allzu komplizierten Umwegen des Drehbuchs verloren zu gehen, das mit denkbar ungelenken Dialogzeilen und für den Regisseur typischen Volten die Verkettung von Schauwerten auf einen Fluchtpunkt hinzuleiten versucht. Dennoch erscheint „Old“, im Gegensatz zu anderen Shyamalan-Filmen weniger um die gimmickhafte Auflösung gebaut als vielmehr um die Gesten, die auch der unaufhaltsamen Kraft der Zeit trotzen. Der liebende Blick, den die Gealterten auf ihre Kinder werfen und die Gealterten, die noch ein letztes Mal an ihrer erst seit wenigen Stunden vergangenen Kindheit festhalten, um gemeinsam eine Sandburg zu bauen.