Drama | Frankreich 2021 | 117 Minuten

Regie: Mélanie Laurent

Eine junge, unkonventionelle Französin wird im Jahr 1885 von ihrer Familie in die geschlossene Psychiatrie der Pariser Salpêtière eingeliefert, weil sie über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen scheint. Dort versucht man sie mit drakonischen Prozeduren zur Vernunft zu bringen; in einer Oberschwester findet sie jedoch eine Verbündete. Die Romanadaption verhandelt im historischen Gewand das Ringen der Aufklärung mit Aberglauben und einem bornierten Patriarchat. Ein glänzend besetztes und gespieltes Drama über die Unterdrückung von Frauen und ein dunkles Kapitel der Medizin, das in Gestalt der beiden Hauptfiguren aber um Intimität, Freiheit und Vertrauen kreist. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LE BAL DES FOLLES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Légende Films
Regie
Mélanie Laurent
Buch
Mélanie Laurent · Christophe Deslandes
Kamera
Nicolas Karakatsanis
Musik
Asaf Avidan
Schnitt
Anny Danché
Darsteller
Lou de Laâge (Eugénie) · Mélanie Laurent (Geneviève) · Cédric Kahn (François Cléry) · César Domboy (Ernest) · Benjamin Voisin (Théophile)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Historienfilm | Literaturverfilmung
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Drama um eine junge, unkonventionelle Französin, die Ende des 19. Jahrhunderts von ihrer Familie in die geschlossene Psychiatrie der Pariser Salpêtrière eingewiesen wird.

Diskussion

Was ist Intimität? Was Privatheit? Vielleicht am ehesten das Gefühl, frei zu sein. Da zu sein ohne Reglement und Überwachung. Sehen, ohne gesehen zu werden. Genau dies scheint Eugénie Cléry (Lou de Laâge) in der Filmadaption des Romans „Le bal des folles“ von Victoria Mas sehnlich zu erstreben. Doch es wird ihr auf drastische Art und Weise verwehrt.

Eugénie ist eine hübsche Tochter aus gutbürgerlichem Hause im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ihr scheint ein standesgemäßes Leben in Sicherheit und Komfort vorherbestimmt, vielleicht sogar Zufriedenheit als Gattin und Mutter. Glück aber oder Selbstbestimmung ist darin nicht vorgesehen. Das hat auch damit zu tun, dass Eugénie ein Freigeist ist, der querbeet Romane und Gedichte liest und gerade – solo – von der Beerdigung Victor Hugos zurück an den heimischen Abendbrottisch kommt; die Kamera folgt ihr von hinten.

Überdies besitzt sie die zweifelhafte Gabe, in Zuständen gequälter Trance Botschaften aus dem Jenseits zu empfangen – so jedenfalls muss es den Anschein haben, nachdem sie auf diese Weise lange verlegte Gegenstände aufspürt. Als sie bei einem wichtigen sozialen Event für damalige Verhältnisse ausfällig wird und die Tochter eines Kollegen ihres Vaters düpiert, wird hinter ihrem Rücken beschlossen, sie endgültig zur Räson zu bringen, und zwar durch ihre Einweisung in die geschlossene Psychiatrie der Pariser Salpêtrière.

Eisbäder, Einzelhaft, Dunkelfolter

Diese Einrichtung war damals eine frühe wissenschaftliche Forschungsstätte zu Geistes- und Nervenkrankheiten unter der Leitung von Doktor Charcot (Grégoire Bonnet), dessen Therapieansätze im Buch wie im Film mittelalterlich anmuten und der die widersetzliche Eugénie alsbald immer drakonischeren Prozeduren unterwirft (Eisbäder, Einzelhaft, Dunkelfolter).

Der von Mélanie Laurent inszenierte Film, der als Historiendrama beginnt, wandelt sich zum Kammerspiel mit gutem Timing und kontrastiert sinnfällig das bürgerliche Interieur der Kerzen und Spiegel mit dem Chaos der Geräusche und den Gerüchen des Asyls. In beiden Sphären preist der Film die Macht der Dinge als Erinnerungsstücke und Talismane. Dem männlich-mitleidlosen Blick von Charcot und seinen Kollegen sind die Insassinnen wie auch das weibliche medizinische Personal ausgeliefert.

Zwischen Eugénie und Oberschwester Geneviève (Mélanie Laurent) bildet sich bald eine besondere Beziehung, weil Geneviève schnell erkennt, dass Eugénie Opfer der gesellschaftlichen Konventionen und eines medizinischen Fehlurteils ist. Geneviève wurde zwar ganz im Geist rationaler Klarheit erzogen, wünscht sich aber nichts sehnlicher, als noch einmal mit ihrer verstorbenen Schwester in Kontakt zu treten; das mag ihre Faszination für Eugénie und deren übersinnliche Fähigkeiten erklären.

Drei Frauen, drei Schicksale

Der Mittelakt des Dramas lässt sich deshalb als das Ringen der Aufklärung mit dem Aberglauben im Zeichen eines frühmodernen wissenschaftlichen Positivismus verstehen. Doch jede Erleichterung, die Geneviève Eugénie angedeihen lässt, wird durch Schwester Jeanne (Emmanuelle Bercot) zunichtegemacht. Die aus kleinen Verhältnissen zu beschränkter Macht gelangte Schwester sucht ihr Heil in fragloser Pflichterfüllung bis hin zum Sadismus. Drei Frauen anno 1885, drei sehr unterschiedliche Karrieren, Schicksale, Hoffnungen.

Die Ereignisse spitzen sich krisenhaft zu. Immer heftiger kämpfen die Beteiligten wie die Mächte von Hell und Dunkel um Eugénies arme Seele, die darüber vom handelnden Subjekt gänzlich zur (er-)leidenden Patientin zu werden droht. Die Motivationen und tragischen Entscheidungen Genevièves treten dafür in den Vordergrund. Ein Filmdrama mit zwei gleichberechtigten Hauptfiguren. All dies kulminiert am Abend des titelgebenden Balls – eine fragwürdige Tradition des irren Hauses, welche wie im Karneval für einen Tag im Jahr die Reglements und Hierarchien rituell außer Kraft setzt. Insassinnen, Ärzte und Gäste mischen sich auf den Fluren und in den Séparées; alles ist möglich und erlaubt.

Ein Befreiungsakt

Der Gedanke der Vertauschbarkeit der Rollen drängt sich geradezu auf. Diesen Moment der Zügellosigkeit nutzt Geneviève für ein kleines Komplott gegen die Autoritäten, das ihr selbst einen hohen Preis abverlangt und Eugénie die Chance auf Aussöhnung und Wiedervereinigung mit ihrer Familie eröffnet. Ob es das ist, was sie, die mittlerweile eine andere ist, ersehnt, und ob dieser utopische Zustand von Dauer sein kann, weiß man nicht. Immerhin aber wird man Zeuge eines Befreiungsakts, der das Brechen von Ketten und Kerkertoren transzendiert.

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