Coming-of-Age-Film | Schweiz 2021 | 110 Minuten

Regie: Lorenz Merz

Die Geschichte eines jungen Mannes aus Zürich an der Schwelle zum Erwachsensein. Er hört den Ruf der Wildnis, schleicht mit seinen Freunden in den Zoo, um die wilden Kreaturen zu befreien. Dabei ist er mit einem Fuß längst schon in einer anderen Welt; er hat einen kleinen Jungen, um den er sich kümmert. Bis er sich neu verliebt, in eine freiheitsliebende Frau, die demnächst nach Südamerika will. Nun muss er sich entscheiden, zwischen der neuen Liebe und dem Wunsch, seinem Sohn ein verlässlicher Vater zu sein. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
SOUL OF A BEAST
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Hesse Film/8horses/Milan Film
Regie
Lorenz Merz
Buch
Lorenz Merz
Kamera
Fabian Kimoto · Lorenz Merz
Musik
Fatima Dunn · Julian Sartorius · Laszlo Ovlinsky
Schnitt
Lorenz Merz · Noemi Preiswerk
Darsteller
Pablo Caprez (Gabriel) · Ella Rumpf (Corey) · Art Bllaca (Jamie) · Luna Wedler (Zoé) · Tonatiuh Radzi (Joel)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Jules und Jim in Zürich: Ein ungestümer junger Liebesfilm mit Nouvelle-Vague-Flair um eine Dreiecksgeschichte

Diskussion

Sie sind jung, sie sind wild, begeben sich auf Trips und träumen. Sie haben Freunde, Eltern, Nachbarn und Bekannte. Auch ein kleines Kind gibt es: Jamie. Vor allem aber leben sie, schnell und intensiv. Folgen von der Nacht in den Tag in die Nacht hinein impulsiv ihren Gefühlen. Die Liebe für- und zueinander erweist sich dabei als so beflügelnd wie verheerend.

„Soul of a Beast“ von Lorenz Merz ist ein ungestümer junger Liebesfilm, wie man ihn von der Nouvelle Vague kennt. Wie „Jules und Jim“ erzählt er von einer Dreiecksgeschichte, von Gabriel, seinem besten Freund Joel und dessen neuer Freundin Corey; allerdings sind die Protagonisten enthemmter. „Soul of a Beast“ gehört überdies zu den Filmen, in denen Tiere aus einem Zoo ausbrechen. Vor allem aber schreibt er sich ein in einen Kanon Schweizer (Liebes-)Filme, die in der Nachfolge von „Konditorei Zürrer“ und „Hinter den sieben Gleisen“ in den Quartieren hinter Zürichs Hauptbahnhof spielen und sich damit auch auseinandersetzen: Werke wie „Strähl“, „Filou“, „Dreißig Jahre“, „Der Büezer“, „Der Freund“, „Tage am Meer“ oder „Traumland“.

Aus der Normalität gefallene Figuren

In diesen Filmen erscheint die Stadt Zürich so, wie sie in Wirklichkeit ist, aber in den Bildern der Film Commission Zurich, die Zürich fleißig als Drehort bewirbt, kaum zu finden ist. Die Stadt von „Soul of a Beast“ ist ein multikulturelles, urbanes, lebendiges Zürich. Eine kleinräumige Stadt, deren Erscheinungsbild sich nicht durch Sehenswürdigkeiten, Denkmale und architektonische Würfe bestimmt, sondern durch eine lange Straße, die hinter dem Bahnhof unter den Gleisen hindurchführt und die Quartiere rechts und links davon miteinander verbindet. Die Gebäude an der berühmten-berüchtigten Langstrasse, die ihr Image als „Sündenmeile“ in den zwei letzten Jahrzehnten aufpoliert hat, sind vier oder fünf Stockwerke hoch und beherbergen Menschen aus allen Ecken der Welt.

Außer in den frühen Morgenstunden trifft man in den Gassen und auf den Plätzen fast immer Menschen. Quartierbewohner, Obdachlose, Freier, Sexarbeiterinnen und Ausgehpublikum. Die einen sind am Shoppen, andere warten, stehen und sitzen vor Bars, Läden und Lokalen, in Hauseingängen und an Busstationen, trinken, rauchen und plaudern miteinander; manchmal wird es fröhlich, manchmal laut, der Verkehr rollt meist langsam. Ein wenig erinnert das Szenario an ein Wimmelbild. Pieter Bruegel der Ältere hätte seine Freude daran.

Man begegnet in „Soul of a Beast“ einem Penner, der in einem Auto haust, einer Obdachlosen, die Tag und Nacht durchs Quartier stromert und in gebrochenem Deutsch immer mal wieder „A‘sloch“ schreit. Es sind verrückte, aus der Normalität gefallene Figuren in einem Film, der vor Ideen sprüht und Bild und Ton so sehr entfesselt, dass er selbst irgendwie verrückt und etwas neben der Spur wirkt.

Nach dieser Nacht ist etwas anders

„Soul of a Beast“ handelt davon, wie die Beziehungen zwischen Gabriel, Joel und Corey durcheinandergeraten. Corey, beeindruckend intensiv gespielt von Ella Rumpf, ist lebenslustig, spontan, unabhängig und gibt sich geheimnisvoll. Sie wird demnächst auf eine große Reise gehen; damit erinnert sie an die junge Frau, die Merz in "Cherry Pie" (2014) von Zuhause abhauen und während einer Schifffahrt über den Ärmelkanal zu einer andern werden lässt. Die Tage vor ihrer Abreise hängt Corey herum, läuft spontan bei einer Demonstration mit, tanzt durch die Straßen. Sie lässt Gabriel und Joel ein Sofa durch die Straße tragen, lädt die beiden auf einen Trip ein und geht mit ihnen nachts in den Zürcher Zoo.

Hier frotzelt und blödelt man übermütig herum, vor aber auch in den Gehegen. Es gibt Pfauen, Pinguine, Löwen, andere Raubkatzen und Giraffen, die in „Soul of a Beast“ eine besondere Rolle spielen. Die Kamera von Lorenz Merz und Fabian Kimoto ist wild und bewegt. Die Bilder, nachtdunkel und in die Unschärfe gezogen, folgen einem Rausch. Nach dieser Nacht ist etwas anders. Gabriel und Corey fühlen sich voneinander angezogen und begehren sich. Joel (Tonatiuh Radzi) ahnt und weiß irgendwann etwas und holt ein altes Schwert hervor. Durch den Film geistern fortan entflohene Zootiere, die es in die Nachrichten schaffen und für Polizeieinsätze sorgen.

Der Film beginnt mit Gabriel und Joel, die auf dem Motorrad und mit dem Rollbrett nachts durch die Langstraße fahren und dabei bei Rotlicht juchzend über die Kreuzungen sausen. Tempo und Temperament sind damit vorgegeben. Der Sonntagmorgen bringt Ernüchterung. Gabriel (Pablo Caprez) kümmert sich um den vierjährigen Jamie, von dem Corey und mit ihr die Zuschauer lange nicht wissen, ob er Gabriels Bruder oder sein Sohn ist. Gabriel lebt mit Jamie in einer Wohnung, die seiner Mutter gehört, die sich aber auf einer längeren Reise befindet. Gabriel ist mit Jamie allein; wenn er mal wegwill, braucht er einen Babysitter oder drückt der befreundeten Prostituierten vor der Haustür das Babyphone in die Hand. „Soul of a Beast“ thematisiert auf einer zweiten Ebene auch, was es bedeutet, wenn Menschen in einem Alter Eltern werden, in dem sie selbst noch nicht gefestigt im Leben stehen.

Ein eiliger Film, in dem die Zeit fliegt

Die Vierte im Bunde ist Gabriels Ex-Freundin Zoé. Sie war blutjung, als Jamie zur Welt kam, und wohnt heute bei ihrer Mutter in einer Villa an der Goldküste von Zürich. Die mit Medikamenten und Drogen vollgepumpte junge Frau verbringt gefühlswirre Tage. Sie taucht zwischendurch bei Gabriel auf, macht ihm eine Szene und reklamiert Jamie für sich. Doch Jamie will mit der ihm Fremden nicht mitgehen. Luna Wedler spielt die jung aus dem Leben gefallene Frau sehr körperlich.

Die Handlung umfasst nur weniger Tage. Es ist ein eiliger Film, einer, in dem die Zeit fliegt und zugleich inexistent ist; als Corey Gabriel ihre Verliebtheit erklärt, erzählt sie ihm auch, dass sie seit ihrer Kindheit das Gefühl habe, dass es die Zeit gar nicht gäbe, dass sie alles tun könne und alles möglich sei. Dieses Alles, das zugleich ein Nichts ist, die verzehrende Sehnsucht, der Rausch, das überschwängliche Drama und das Gegenteil davon, der plötzliche Absturz, die kalte Ernüchterung, das nackte Ankommen auf dem Boden, sind das Thema von „Soul of a Beast“, nicht nur inhaltlich, sondern auch inszenatorisch. Auf Szenen, in denen Bild und Ton explodieren, folgen Momente der Stille; Hippie-Rock und Hollywood-Orchester oder das kaum hörbare Rauschen des Waldes; der Soundtrack von „Soul of a Beast“ ist superb.

Ein kühner, großartiger Wurf

„Soul of a Beast“ handelt davon, wie Menschen, die sich nahestehen, einander abhandenkommen. Gegen Ende des Films fahren Corey und Joel in der umgekehrten Richtung durch die Langstraße, als Joel und Gabriel am Anfang auf dem Motorrad gekommen sind. Später erklingen Sirenen. Die zehn Minuten, die danach noch folgen, holen nach, was in der Eile der Erzählung zuvor ausgelassen wurde, vielleicht auch hätte ausgelassen bleiben dürfen.

Alles in allem ist „Soul of a Beast“, der im Off auch Platz für einen Erzähler findet, der japanische Weisheiten von sich gibt, ein kühner, großartiger Wurf. Ein Film, der emotional und opulent in seiner jugendlichen Rastlosigkeit mitreißt und auf der Leinwand explodiert – und Zürich zu einem Ort irgendwo auf der Welt werden lässt.

Beim 74. Locarno Filmfestival gewann „Soul of a Beast“ den Preis der Ökumenischen Jury und wurde auch von der offiziellen Jury mit einer speziellen Erwähnung bedacht.

Kommentieren