Drama | Iran 2020 | 78 Minuten

Regie: Pouya Eshtehardi

Ein iranischer Rekrut wird von seinem Vorgesetzten schikaniert, der ihn nicht zur Hochzeit seiner Schwester fahren lässt, sondern zum Wachdienst verdonnert. Bei einer weiteren Konfrontation kommt der Offizier zu Tode. Während der Soldat darauf wartet, was mit ihm geschieht, driften seine Gedanken zurück in seine unglückliche Kindheit, die von Gewalt, archaisch-patriarchalen Traditionen und religiösen Ritualen geprägt war. Das surreal schillernde Drama verschränkt höchst kunstvoll Gegenwart, Vergangenheit und Traumbilder zu einer stilistisch wie erzählerisch herausfordernden Geschichte um Geschwisterliebe, die um Schuld, Ohnmacht und Gewalt kreist. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
BIGAH
Produktionsland
Iran
Produktionsjahr
2020
Regie
Pouya Eshtehardi
Buch
Pouya Eshtehardi
Kamera
Reza Hemasi
Musik
Navid Jaberi
Schnitt
Pouya Eshtehardi
Darsteller
Iman Afshar (Hamin) · Shayan Afshar (Hamin) · Ayoub Afshar (Vater) · Mousa Afshar (Befehlshaber) · Awa Azarpira (Mahin)
Länge
78 Minuten
Kinostart
10.03.2022
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Surreal-impressionistisches Drama um einen iranischen Rekruten, der von seinem Vorgesetzten gegängelt wird und dessen Tod verschuldet.

Diskussion

„Untimely“: Bei diesem Wort denkt man unwillkürlich an die Prophezeiung der drei Hexen in Shakespeares „Macbeth“, die der Titelfigur eine trügerische Sicherheit zu garantieren scheinen. Erst spät wird die Doppelbödigkeit der Prophezeiung sichtbar. „Untimely“: vor der Zeit, zur Unzeit oder nicht chronologisch. Alle drei Bedeutungen schwingen in dem bemerkenswerten Spielfilmdebüt des iranischen Regisseurs Pouya Eshtehardi mit, weil er Geschichte, Gegenwart und Traumbilder derart assoziativ und kunstvoll verschränkt und montiert, dass sich so etwas wie ein Plot erst ganz allmählich und wohl auch nur beim wiederholten Sehen erschließt.

Das gewählte Erzählverfahren von „Untimely“ wird bereits in den ersten Sequenzen sichtbar, getrennt durch den Filmtitel, der lakonisch als kommentierender Hinweis fungiert. Ein Junge kämpft im Wasser ums Überleben. Kaum an Land, wird er von einem jungen Soldaten angesprochen, der ihn darauf hinweist, dass er sich auf einem Militärgelände befinde, was offenbar sehr gefährlich ist. Doch der Junge antwortet, er wolle nicht weglaufen. In diesen Sequenzen treffen „untimely“ Geschichte und Gegenwart direkt aufeinander, denn der Junge und der junge Soldat sind ein und dieselbe Figur.

Ein an Beckett gemahnendes Szenario

Bis man diesen Konnex allerdings herstellen kann, vergeht einige Filmzeit. Aus den diversen Bruchstücken lassen sich einzelne Handlungssequenzen zusammensetzen. Da ist der junge Soldat Hamin, der im iranisch-pakistanischen Grenzgebiet seinen Dienst leistet. Ein geringfügiges Fehlverhalten – Hamin ist Raucher – führt dazu, dass sein Vorgesetzter aus disziplinarischen Gründen das Urlaubsgesuch ablehnt, das Hamin eingereicht hat, um bei der Heirat seiner Schwester Mahin dabei zu sein. Hamin wird stattdessen zum Einsatz auf einem maroden Wachturm an einer Steilküste geschickt: ein an Beckett gemahnendes Szenario.

Zum Nichtstun verdammt, lässt Hamid seine Gedanken schweifen. Erste Kindheitserinnerungen an eine unselige Familiengeschichte kommen hoch. Assoziative Impressionen, die zunächst rätselhaft bleiben. Als dann der Vorgesetzte zu einem Kontrollbesuch am Wachturm erscheint, eskaliert die Situation und der Vorgesetzte stürzt zu Tode. Hamid versucht, die Leiche verschwinden zu lassen und die Spuren zu verwischen, wobei er neue Indizien produziert. Zudem konterkariert die trostlose Topografie des Postens seine Bemühungen. Es bleibt Zeit, alle Handlungsoptionen durchzuspielen, bis hin zum Selbstmord.

Ein Poem, das gewaltsame Verhältnisse reflektiert

Was dann geschieht, ähnelt einer Mischung aus psychedelischem Trip, Dokumentarischem, Bruchstücken einer Handlung und Traumbildern, die mit der Erhabenheit der Berglandschaft jener Region punkten. Zusätzlich sorgt der Einsatz von Großaufnahmen, die von Farben und Texturen erzählen, für geheimnisvolle Leerstellen, die hohe Aufmerksamkeit verlangen, wenn man das Puzzle-Angebot annehmen will. „Untimely“ ist ein Mysterium, ein filmisches Poem, eine mosaikartige psychoanalytische Reflexion einer Geschwistergeschichte vor dem Hintergrund hierarchisch strukturierter, gewalthaltiger Verhältnisse.

Wiederholt wird Hamin gefragt, ob er mittlerweile „Urdu“ spreche. Ein Hinweis auf die kulturelle Tradition einer Transit-Region, die grenzüberschreitend mit archaischen Traditionen und religiösen Ritualen unterfüttert ist. Der Vater der Geschwister lebt(e) wohl in Pakistan und verdiente seinen Unterhalt durch gefährliche Schmuggelfahrten. Vom Vater erhält Hamin auch die erste Zigarette, was sein hingebungsvoll gepflegtes Hobby des Rauchens vielleicht zur „Madeleine“ macht – und ihm gleichzeitig den Ärger mit seinem Vorgesetzen einträgt. Die gemeinsame Schmuggeltour mit dem Vater ist jedenfalls der einzige glücklich-entspannte Moment des Films, der damit endet, dass der Vater Hamin ins Wasser wirft, um ihn zu retten. Denn tatsächlich handelt es sich um streng abgeschirmtes, von bewaffneten Kräften kontrolliertes Grenzgebiet.

Gewalt, Flucht, Freiheit

Einmal wird eine schockhaft-rituelle Handlung „erinnert“, die an eine Bestrafung oder einen Exorzismus erinnert. Wurde die Mutter der Geschwister getötet oder hat sie sich selbst verbrannt? Deutlich wird immerhin, dass Hamin alles versucht hat, um seiner Schwester beizustehen und sie vor dem Zugriff anderer zu schützen. Auf mehreren Ebenen erzählt „Untimely“ von Gewaltverhältnissen, von Fluchtbewegungen, die Freiheit versprechen, aber gleichzeitig Verantwortung abstreifen, doch das eindrucksvoll selbstbewusste Debüt wählt dafür ein schillerndes, leicht surreales Erzählen, das Dokumentarisches auf so kunstvoll-eigentümliche Weise mit poetisch kraftvollen Bildern verschränkt, dass es an Filme von Sergej Paradshanow oder Chen Kaige denken lässt.

Kommentar verfassen

Kommentieren