Der in New York lebende Radiojournalist Johnny (Joaquin Phoenix) sammelt Material für ein neues Projekt. An verschiedenen Orten in den USA führt er mit Kindern und Jugendlichen sehr ernsthafte Gespräche über ihre Ängste und Hoffnungen, sowohl mit Blick auf die Gegenwart, aber auch, was die Zukunft betrifft. Die Antworten fallen bemerkenswert reflektiert aus. Aus diesem Prozess reißt ihn ein Hilferuf seiner Schwester Viv, die ihrem depressiven Ex-Mann, einem Dirigenten, beistehen will. Johnny willigt ein, sich kurzzeitig um seinen Neffen Jesse zu kümmern, da er seine Interviews auch in Los Angeles weiterführen kann.
Klugscheißer und Nervensäge
Der neunjährige Jesse ist allerdings eine besondere Nummer. Er ist hochintelligent, ausgesprochen sensibel, eloquent, gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, verwöhnt und selbstbewusst. Irgendwann denkt Jesse darüber nach, dass er keine gleichaltrigen Freunde habe, weil er nicht deren Sprache spreche. Was wohl damit zu tun habe, dass er meist mit Erwachsenen zusammen ist. Die ihm überdies äußerst zugewandt begegnen. Kurzum: Jesse ist ein Neunjähriger, der seine Privilegien und seine Entfremdung gleichermaßen empfinden, reflektieren und artikulieren kann. Er ist aber auch ein Klugscheißer und eine Nervensäge, der permanent um Aufmerksamkeit buhlt und verstört reagiert, wenn die Aufmerksamkeit mal geteilt wird. Zudem hat er eine Vorliebe für leicht makabre Rollenspiele; so entwirft er sich als Waisenkind, das einer trauernden Familie anbietet, die entstandene Lücke zu füllen, wenn er entsprechende Informationen erhalte.
Man staunt nicht schlecht! Nach „Thumbsucker“, „Beginners“ und „Jahrhundertfrauen“ gelingt dem US-amerikanischen Regisseur Mike Mills mit „Come on, Come on“ ein weiteres Mal eine gleichermaßen seriöse, intelligente, melancholische wie unterhaltsame Form einer filmischen Familienaufstellung. In „Come on, Come on“ geht es um eine empathische und flexible Form von Gemeinschaft, die aus dysfunktionalen, problematischen Familienkonstellationen erwächst und sich als tragfähig erweist. Zugleich ist der Film ein Plädoyer für das zugewandte Gespräch, das sich nicht hinter formelhaftem „Blablabla“ und Rollenspielen versteckt. Und außerdem eine pointierte Milieustudie, die mit Kultur, Künstlern, Autoren und Intellektuellen augenzwinkernd „Annie Hall“ von Woody Allen variiert.
Ein belastetes Verhältnis
Zu den erstaunlichen Qualitäten von „Come on, Come on“ zählt die Tatsache, dass es dem Newcomer Woody Norman gelingt, diese Figur in all ihren Facetten und Widersprüchen so zu verkörpern, dass sie nicht ausgedacht wirkt. Auch die anderen Figuren – Johnny, Viv, Vivs Ex-Mann, die Mutter von Johnny und Viv, die Freunde und Kollegen von Johnny – bekommen ihre Geschichte, mal mehr, mal weniger ausführlich. Das Verhältnis der Geschwister ist belastet. Vielleicht seit der Demenz der Mutter, vielleicht schon sehr viel länger. Viv, eine Autorin, hat sich sehr mit der Erziehung Jesses auseinandergesetzt. Mutter und Sohn sind ein eingespieltes Team voller Idiosynkrasien, die Johnny nun kennenlernen muss, wobei er von der Schwester kritisch beobachtet wird. Johnny hat zwar sein aktuelles Projekt, das er mit großer Ernsthaftigkeit und Empathie verfolgt, aber selbst keine Kinder. Er versucht vielmehr, den Schmerz über die Trennung von einer langjährigen Partnerin mit Routinen – die Jesse schnell als „Blablabla“ entlarvt – zu überspielen. Der Interviewende wird befragt: „Hast du vielleicht Probleme, deine Gefühle zu zeigen?“
Johnny muss gewissermaßen im Zeitraffer lernen, Verantwortung für Jesse zu übernehmen und eine Beziehung mit dem Jungen auszuhandeln. Das Wechselbad aus Routine und ehrlicher Nähe, aus Nähe zulassen und Grenzen ziehen, aus Kraftprobe und Verletzlichkeit, aus Gesprächen auf Augenhöhe und kindlichem Spiel ist fein beobachtet und wird durch die Interviews ergänzt, die an Orten wie Detroit, Los Angeles, New York und New Orleans stattfinden. So setzt sich aus einer Vielzahl von Impressionen allmählich ein atmosphärisches Panorama des Lebens zusammen, das Platz lässt für alles, was wichtig ist: Fragen nach Tod und Vergänglichkeit, Schmerz, Einsamkeit, Krankheit, Hilflosigkeit, Überforderung, Wut, Liebe, Enttäuschung, Verantwortung, Elternschaft, Erinnern, Vergessen, Gemeinschaft und pragmatischer Solidarität.
Wie klingt ein Ort?
Das alles ist nicht etwa prätentiös in Szene gesetzt, sondern durchaus offen, leicht und mitunter sogar komisch. Nicht ohne Grund eignet sich der Junge Johnnys Aufnahme-Equipment an, um Soundscapes der Orte, die er besucht, zu dokumentieren. Fotografiert in schönem, sattem Schwarz-weiß, unterlegt mit originell ausgesuchter Musik von Claude Debussy bis Etta James und Lee Perry, vorgelesenen Passagen aus unterschiedlichen Fiction- and Non-Fiction-Büchern mit eingeblendeten Quellennachweisen ist Mills mit „Come on, Come on“ ein – man wählt dieses Wort nicht leichthin und nur mit größter Reserve – zutiefst humanistisches Meisterwerk gelungen.
Es gibt vielleicht kein richtiges Leben im falschen, aber vielleicht kann man auf dem Weg versuchen, Fehler zu minimieren, damit mehr gelingt, als ein durch Überraschungen und Herausforderungen forciertes „Come on, Come on“, wie es sich Jesse vorstellt. Aber der ist ja auch erst neun.