Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 99 Minuten

Regie: Tine Kugler

Langzeitdokumentation über einen jungen Berliner, den alle Kalle nennen. Er wächst in Marzahn in einer Plattenbausiedlung auf, will aber kein Ghettokind sein, sondern hat ehrgeizige Pläne für seine Zukunft. Doch in der Realität wird er kriminell und muss ins Gefängnis, will aber dennoch versuchen, sein Leben in den Griff zu bekommen. Der eindrucksvolle Dokumentarfilm porträtiert über zehn Jahre hinweg soziale Ungleichheiten und strukturelle Mängel. Anrührend führt er vor, dass dem Protagonisten das Glück nicht in die Wiege gelegt ist. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
KMOTO Medienproduktion
Regie
Tine Kugler · Günther Kurth
Buch
Tine Kugler · Günther Kurth
Kamera
Günther Kurth
Musik
Philip Bradatsch
Schnitt
Günther Kurth · Tine Kugler
Länge
99 Minuten
Kinostart
26.01.2023
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Edition enthält eine Audiodeskription für Sehbehinderte.

Verleih DVD
mindjazz (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Eindrückliche Langzeitdokumentation über einen jungen Mann aus Berlin, der in die Kriminalität abrutscht, aber sein Leben wieder in den Griff bekommen will.

Diskussion

„Ich habe Angst davor, wie es mit mir weitergeht, ich glaube, es wird nicht gut“, sagt der 17-jährige Pascal. Der junge Mann, den alle nur Kalle nennen, trägt die Haare sehr kurz und resümiert hellsichtig, dass er etwas Schlimmes getan hat. Unter Drogeneinfluss schlug er offenbar grundlos auf einen Mann an einer Straßenbahnhaltestelle ein. Pascal bereut die Tat aufrichtig, doch entschuldigt hat er sich bei seinem Opfer noch nicht. Später wird Kalle wegen Körperverletzung verurteilt.

Doch bevor das Strafmaß verkündet wird und man erfährt, wie es mit ihm weiter geht, stellen die Filmemacher Tine Kugler und Günther Kurth ihren Protagonisten in verschiedenen Stationen seines Lebens vor. Kalle kommt aus dem Ostberliner Stadtteil Marzahn, genauer gesagt aus der Allee der Kosmonauten, einer großen Verkehrsstraße mitten im Plattenbaugebiet. Irgendwo prangt ein großes Wandbild des berühmtesten aller Kosmonauten, Juri Gagarin, doch nach den Sternen greifen können die Bewohner dieses Viertels nicht. Es herrscht große Arbeitslosigkeit, die Jugend hat kaum Perspektiven und stammt verhältnismäßig oft aus zerrütteten Familien.

Was im Leben wichtig ist

„Kalle Kosmonaut“ ist eine Langzeitdokumentation. Über einen Zeitraum von zehn Jahren haben die Regisseure den jungen Berliner begleitet. Eigentlich sollte das Projekt eine Beobachtung von Schlüsselkindern werden. Dann blieben die Filmemacher bei Kalle, dokumentierten sein Abrutschen in die Kriminalität, was zunächst keiner vermutet hätte. Auch später macht Kalle im Film nie den Eindruck eines tumben Schlägers. Die ersten Aufnahmen von ihm zeigen einen fröhlichen Zehnjährigen, der in Marzahn Fußball spielt und Fan von Hertha BSC ist. Kalle ist ein genügsames Kind. Es ist rührend, ihn sagen zu hören, dass es das Wichtigste sei, ein Dach über dem Kopf zu haben sowie „Essen, Jacken und Spielsachen“.

Drei Jahre später ist Kalle deutlich gereift und berichtet vor der Kamera von großen Plänen. Er wolle kein „Ghettokind“ sein, sondern Arbeit haben und etwas erreichen. Doch auf der örtlichen Polizeiwache kennt man ihn bereits. Für die Polizistin, die im Viertel mit ihrem Kollegen Streife fährt, ist Kalle „eigentlich ein ganz Lieber“, und auch sein Betreuer bei dem Kinder- und Jugendwerk Arche sagt viel Gutes über ihn. Doch Kalles Pläne wollen nicht so recht gelingen. Man sieht ihn mit seinen Kumpels, er ist in seiner Clique integriert, hat eine Freundin – ein ganz normaler Jugendlicher eigentlich.

Zwei Jahre, sieben Monate

Dann aber sind die Rückblenden vorbei und der Film ist wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt. Zwei Jahre und sieben Monate muss Kalle für seine Tat ins Gefängnis – eine lange Zeit, die er in der Gesellschaft von gestandenen Verbrechern verbringen wird, unter denen auch Mörder sind.

Anhand eines Einzelschicksals demonstriert „Kalle Kosmonaut“, wie sehr die soziale Herkunft eine Biografie bestimmt und dass es mit der vielbeschworenen Chancengleichheit in der Allee der Kosmonauten nicht weit her ist. Kalle hat immer darunter gelitten, ohne Vater aufgewachsen zu sein. Seine Kränkung darüber, verlassen worden zu sein, äußert sich irgendwann in Trotz. Aber der Film offenbart auch eine Orientierungs- und Heimatlosigkeit in seinem unmittelbaren Umfeld. Das Gefühl seiner in der DDR sozialisierten Familie, im wiedervereinigten Deutschland nicht gebraucht zu werden, münden in Bitterkeit und Alkoholsucht. Der Opa sagt, er wolle keine Freiheit, sondern lieber seinen Job zurück. So sind für Kalle kaum Vorbilder vorhanden; er ist viel auf sich allein gestellt. Während der Haftzeit hat er sich von seinen Freunden entfremdet. Außerdem fällt es der Gesellschaft offensichtlich schwer, junge Menschen wie ihn wieder zu integrieren. Strukturelle Mängel werden sichtbar. Dabei beweist Kalle durchaus Talente. Er betätigt sich als Rapper und wandelt seine Enttäuschung und Wut in knallharte, aber durchaus poetische Texte um.

Zwischen Verzweiflung und Mut

Zu keinem Zeitpunkt wertet oder verurteilt der Film seinen jungen und sehr ehrlichen Protagonisten. Vor der Kamera beschönigt dieser nur selten seine Taten und Erfahrungen, doch Gefühlsschwankungen werden jederzeit sichtbar. Zwischen Verzweiflung und wiedererlangtem Mut gibt es bei Kalle nur ein einziges Auf und Ab. Zwischendurch verfremdet der Film Kalles Aspirationen in eingeschobenen Animationssequenzen – passend bei einem wie ihm, der auch Kontakte in die Sprayer-Szene pflegt.

„Kalle Kosmonaut“ ist ein dokumentarisches Pendant zu „Boyhood“ von Richard Linklater, mit dem feinen Unterschied, dass man Kalles Werdegang nicht fiktiv beeinflussen kann. Ob es der junge Familienvater, der sich oft als wahrer Romantiker entpuppt, schaffen wird und seine ehrgeizig formulierten Pläne in die Tat umsetzen kann, bleibt offen. Man wünscht ihm aber das Beste.

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