Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | 119 Minuten

Regie: Mike Schlömer

Der zu lebenslanger Haft verurteilte Michael Scholly soll nach 28 Jahren in die Freiheit entlassen werden. Doch er kommt mit dem Leben außerhalb des Gefängnisses nicht klar und wird wieder straffällig. Der Dokumentarfilm beobachtet Scholly in der Zeit vor wie nach der Entlassung umsichtig und ohne analytischen Gestus. Das Scheitern der Resozialisierung wendet der Film mutig in die Richtung, dass Schollys Schicksal Denkanstöße für eine Diskussion liefern könnte, warum viele Ex-Häftlinge Probleme mit einem selbstbestimmten Leben haben. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
HiHead Film
Regie
Mike Schlömer · Georg Nonnenmacher
Buch
Georg Nonnenmacher
Kamera
Georg Nonnenmacher
Musik
Michael Bauer
Schnitt
Yana Höhnerbach · Mike Schlömer
Länge
119 Minuten
Kinostart
31.03.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Doku über eine scheiternde Resozialisierung eines straffälligen Mannes, der vom Leben außerhalb des Gefängnisses überfordert ist.

Diskussion

Michael Scholly hat nahezu sein ganzes Erwachsenenleben im Gefängnis verbracht. Als junger Mann wurde er zum Mörder. Das Gericht verurteilte ihn zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Er hat mehrere Therapien durchlaufen, ist Mitglied einer Theatergruppe, malt und treibt Sport. Jetzt hat er ein konkretes Ziel vor Augen: Er träumt von seiner Entlassung.

Auf dem Weg dorthin wird er von vielen Menschen unterstützt. Dazu gehören ein Therapeut, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, ein Pfarrer, die Anstaltsleitung. Scholly hat bereits verschiedene Freigänge hinter sich. Er hat mehrere Praktika in einem Gartenbaubetrieb absolviert und kann dort nach der Entlassung in einer Festanstellung arbeiten. Auch eine Wohnung ist in Aussicht. Scholly wird langsam ungeduldig, er will so schnell wie möglich raus aus der Haft. Doch darüber entscheidet das Gericht, und zwar aufgrund von Gutachten, die erst noch erstellt werden müssen. Scholly muss beweisen, dass er für ein eigenverantwortliches Leben bereit ist.

Als der große Tag endlich kommt, liegen sich Scholly und seine Helfer nach dem Gerichtstermin in den Armen. Schnell folgt der Umzug in die neue Wohnung und der Start in den Job. Doch es dauert nicht lange, bis die ersten Probleme auftauchen. Bald wird klar, dass er eigentlich weiterhin Hilfe bräuchte. Aber die kann oder will ihm niemand geben, denn für die Justiz gibt es nur drinnen oder draußen. Wer draußen ist, muss selbst mit allem fertigwerden oder wenigstens um Hilfe bitten können.

Michael Scholly steht im Zentrum

Der minimalistische Film „Auf Anfang“ von Georg Nonnenmacher und Mike Schlömer ist ebenso unspektakulär wie unprätentiös, aber erschreckend wirkungsvoll in seiner durchgängig melancholischen Stimmung. Außer dem Namen von Michael Scholly werden keine anderen genannt, sie fallen eher zufällig. Lediglich zu Beginn und zum Schluss gibt es sparsame Inserts zur Information. Pianoklänge begleiten die Schlusstitel, ansonsten wird auf musikalische Untermalung verzichtet.

Michael Scholly steht im Zentrum des Geschehens, er hat das Wort, ist in den meisten Szenen zu sehen. Nur selten wird über ihn gesprochen, ohne dass er dabei wäre. Scholly, ein großgewachsener Mann mit hageren Gesichtszügen, wirkt ganz natürlich. Er hat einen leichten Sprachfehler, stottert manchmal, wenn er unsicher ist, und neigt dazu, sich interessant zu machen.

Was Nonnenmacher und Schlömer hier leisten, ist mutig. Sie dokumentieren ein umfassendes Scheitern, ohne eine Lösung zu präsentieren; selbst am Ende fehlt jeder Funke Hoffnung. Das ist ungewöhnlich und macht ihren beobachtenden Dokumentarfilm etwas spröde, aber auch interessant. „Auf Anfang“ stimuliert Diskussionen zum Thema Resozialisierung oder generell über den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft, in der so vieles reguliert wird, aber vieles gar nicht regulierbar ist.

Alle Beteiligten konnten zu Beginn der Dreharbeiten davon ausgehen, dass Michael Scholly ein Musterbeispiel für eine gelungene Wiedereingliederung werden würde. Geplant war, dass die Filmemacher ihn in seinem ersten Jahr in Freiheit begleiten würden. Stattdessen wurden sie noch im Entstehungsstadium des Films mit einer ungewöhnlichen Situation konfrontiert, über die sie zu Beginn sogleich informieren. Schon in den ersten Minuten zeigt ein Insert an, dass Scholly wieder verhaftet wurde. Näheres erfährt man dann erst am Schluss, ebenfalls in Form von Inserts. Dazwischen entfaltet sich die Geschichte einer fehlgeschlagenen Resozialisierung, die immer wieder neue Fragen aufwirft, auf die es kaum schlüssige Antworten gibt. Wer ist schuld? Was ist falsch gelaufen? Was hätte man anders machen können?

Lauter scheinbar einfache Fragen

Lauter scheinbar einfache Fragen, doch so einfach läuft es nicht in der Welt, und schon gar nicht für einen Michael Scholly, der sich selbst immer als Opfer bezeichnet – als Kind misshandelt und missbraucht, früh kriminell geworden. Vielleicht aber erfindet er diese Storys auch nur, weil er sich damit beliebt machen oder von Schuld freisprechen kann?

Scholly träumt von einem normalen Leben, ohne jemals die Normalität kennengelernt zu haben. Doch so wie er sich die Freiheit erträumt hat, gibt es sie gar nicht. Er verliert sich, womöglich ohne sich jemals gefunden zu haben. Scholly ist ein Mensch ohne Bindungen und in beinahe 30 Jahren Gefängnis innerlich komplett vereinsamt. Sein Scheitern ist auch das Scheitern einer Gesellschaft, in der jede Form der Resozialisierung davon ausgeht, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat. Nur hatte Michael Scholly gar keine erste Chance. Niemand hat sie ihm gegeben. Jetzt ist sie da, und er kann nicht damit umgehen.

Ein ganzes Heer von Betreuern hat sich um ihn gekümmert, ihm zugehört und ihm vertraut, darunter auch die Filmemacher. Der Film zeigt auch, wie Scholly ihnen allen entgleitet, sobald er nicht mehr unter Aufsicht steht. Im Gespräch mit der Bewährungshelferin wird er mit seinen wachsenden Problemen konfrontiert und findet für alle eine Erklärung. Tipps und Ermahnungen perlen an ihm ab. Scholly entgleitet die Tagesstruktur, er fehlt unentschuldigt im Betrieb, die erste Abmahnung lässt nicht lange auf sich warten. Geldprobleme werden angedeutet, sein Verhalten wird trotziger, sein Sprachduktus verändert sich, er stottert wieder stärker. All das könnten Zeichen für eine Krise sein. Es könnte sich aber ebenso um ganz normale Anfangsschwierigkeiten handeln.

Anstöße für die Diskussion

Georg Nonnenmacher und Mike Schlömer entwickeln Schollys Geschichte ebenso geschickt wie unauffällig. Dadurch, dass sie gleich zu Anfang das Ende enthüllen, nehmen sie ihrem Werk keinesfalls die Spannung – im Gegenteil: Über dem Film hängt das buchstäbliche Damokles-Schwert in Gestalt der Frage: „Wie konnte es dazu kommen?“ „Auf Anfang“ analysiert allerdings nicht. Der Film beobachtet vielmehr, er zeigt und liefert im besten Falle Anregungen für Erklärungs- und Deutungsversuche; er könnte Anstöße für eine Diskussion über eine neue, umfassende Form der Resozialisierung von Straffälligen geben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Kommentar verfassen

Kommentieren