Coming-of-Age-Film | Deutschland 2021 | 102 Minuten
Regie: Mira Thiel
Filmdaten
- Originaltitel
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2021
- Regie
- Mira Thiel
- Buch
- Nika Heinrich · Oskar Minkler · Mira Thiel
- Kamera
- Birgit Bebe Dierken · Tomas Erhart
- Musik
- Tim Neuhaus
- Schnitt
- Andreas Baltschun
- Darsteller
- Jonas Holdenrieder (Jacob) · Timur Bartels (Alf) · Rauand Taleb (Bo) · Gizem Emre (Ina) · Tijan Marei
- Länge
- 102 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 12.
- Genre
- Coming-of-Age-Film | Komödie
Coming-of-Age- und Culture-Clash-Komödie um einen jungen Amish, der sich nach Berlin absetzt, um sich in der Großstadt auszuprobieren.
Für junge Amische ist das „Rumspringa“ eine besondere Zeit. Die von äußerst starren Verhaltensregeln bestimmte, vor allem in den USA ansässige Religionsgemeinschaft darf ab dem Alter von 16 Jahren verlassen werden, um die Welt – und auch sich selbst – zu entdecken. Auf einmal ist gestattet, was sonst verboten ist: Partys feiern, Alkohol trinken, Sex haben. Jakob soll dieses „Rumspringa“ in Berlin erleben. Aber schon bei der Ankunft läuft alles schief. Sein Gepäck mitsamt der wertvollen Familienbibel geht verloren, den Vertreter der Mennonitischen Gemeinde, wo er unterkommen soll, verpasst er. Was für ein Glück, als er auf der Straße den jungen Mann mit dem langen Bart und dem Strohhut sieht, der wie ein Glaubensbruder aussieht. Nur: Alf hat mit Religion nichts am Hut und ist nur ein Hipster. Aber immerhin einer, der dann doch dank seiner Teilzeit-Freundin sein Verantwortungsgefühl für den merkwürdigen Zugereisten in sich erkennt und ihn bei sich aufnimmt.
Ein holzschnitthafter Culture Clash
Es ist eine ziemlich simple, fast schon krawallig kontrastive Versuchsanordnung, mit der Mira Thiels Komödie beginnt. Die ruhige, in warmen, erdigen Farben gezeigte Amisch-Welt hier, die manieristisch inszenierte, bunte Berliner Hipster-Welt dort, auf der einen Seite der altbackene, weltfremde Jakob, auf der anderen der freie und sorglose Alf. Und so sind die Gags zu Beginn auch äußerst dumpf.
Dem zur Unternehmenspolitik erklärten Anliegen, unterrepräsentierten Communities Gehör zu verschaffen und eine Stimme zu geben, wird dieses Netflix-Original jedenfalls keinesfalls gerecht. Anstatt einer respektvollen oder kritischen Darstellung werden die Amischen nur der Lächerlichkeit preisgegeben, und auch das Pennsylvania Dutch, diese nur bruchstückhaft verständliche (und hier deshalb konsequent untertitelte) sprachliche Mischung aus amerikanischem Englisch und pfälzischem Dialekt, das Jakob unbeirrt von Anfang bis Ende spricht, lässt den jungen Mann reichlich fremdartig wirken.
Mehr zum Fremdschämen als zum Lachen
Über weite Strecken ist der Humor mehr zum Fremdschämen als zum Lachen – Alf würde das wohl als cringe bezeichnen. Und auch das „Rumspringa“ kommt nicht richtig in Gang. Denn Jakob versucht erst gar nicht, über die Stränge zu schlagen. Er lebt genauso wie bislang, zieht sich zurück, trinkt nicht, macht keine Party. Das Leben von Alf hingegen ist pures Sich-treiben-lassen: Bier am Morgen, Sex am Mittag, Verpflichtungen aus dem Weg gehen. Erst als Jakob Ina trifft, ändert sich das. Er verliebt sich in die Künstlerin und beginnt zum ersten Mal in Frage zu stellen, welche Vorstellungen er von seinem Leben bislang hatte.
Die Fragen, die in „Rumspringa“ aufgeworfen werden, sind klassischer Jugendfilmstoff, erzählt der Film doch über einen Ablösungsprozess. Die Lebensentwürfe der Eltern verlieren an Bedeutung, Regeln werden hinterfragt – und das Schwierigste steht noch bevor: den eigenen Weg zu finden. Nach und nach wird immer deutlicher, dass auch Alf in dieser Hinsicht noch einiges zu lernen hat. „Rumspringa“ allerdings geht sein Thema äußerst selbstverliebt an. Die Figuren bleiben Ausstattung in der Welt der Berliner Hipsters in ihren Lofts, Altbauwohnungen und auf Dachpartys zwischen Vernissagen und Start-up-Träumen.
Erst im letzten Drittel gewinnen die Figuren an Tiefe
Erst im letzten Drittel, wenn auch das Kostümbild Jakob etwas mehr Ernsthaftigkeit zugesteht, gewinnen die Figuren an Tiefe und hören auf zu nerven – auch wenn die inneren Konflikte einfallslos in erklärenden Dialogen ausgetragen werden. Dann erhält auch die vermeintlich so freie moderne Welt mit ihren „richtigen“ Überzeugungen vom guten Leben deutliche Risse. Ist es gar subversiv, wenn die selbstbewusste, vegane, feministische Ina plötzlich den konservativen, religiösen Jakob und die ursprüngliche Welt mit all den klaren Regeln, aus der dieser kommt, unglaublich attraktiv findet? Erzählt „Rumspringa“ also viel weniger vom Aufbrechen und Ausbrechen als vielmehr von einer Rückbesinnung auf das „einfache“ Leben und verbindliche Strukturen?
Und wenn der Film schließlich noch einmal Jakobs Eltern in Pennsylvania zeigt, dann wird für einen kurzen Augenblick deutlich, in was für einem anderen Tonfall und mit was für einer anderen Haltung man diese Geschichte auch hätte erzählen können