Experimentalfilm | Deutschland 2022 | 85 Minuten

Regie: Max Linz

150 Jahre nach der Pariser Commune von 1871 taucht ein Kommunarde und Komponist im modernen Berlin auf und landet nach der Verbrennung einer Deutschlandflagge wegen Hochverrat vor Gericht. Die Justiz tut sich mit dem Verfahren jedoch schwer, zumal Angeklagter und Richterin eine verwirrende Ähnlichkeit aufweisen. Intellektuelle Slapstick-Komödie, die eine essayistische, historisch bewusste Studie der deutschen Rechtsprechung beinhaltet, diese aber weniger analytisch denn als Beobachtung der Körperchoreografien anlegt. Anarchischer Geist reibt sich produktiv am artifiziellen, strengen Setting der preußischen Hallen eines Berliner Gerichts. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Schramm Film
Regie
Max Linz
Buch
Max Linz
Kamera
Markus Koob
Musik
Stefan Will · Fabian Reifarth
Schnitt
Kathrin Krottenthaler
Darsteller
Sophie Rois (Hans List / Richterin Praetorius-Camusot) · Jeremy Mockridge (Yushi Lewis) · Martha Mechow (Céline) · Bernhard Schütz (Wilhelm I. / Detlev D. Detlevsen) · Hauke Heumann (Donnerstrunkhausen)
Länge
85 Minuten
Kinostart
01.09.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Experimentalfilm | Komödie
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD5.1 frz./dt.)
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Intellektuelle Slapstick-Komödie um einen Zeitreisenden aus der Pariser Commune, der den anarchischen Geist von 1871 in den preußischen Hallen eines Berliner Gerichts wiederaufleben lässt.

Diskussion

Mit fröhlicher Unbedarftheit stolpert der angehende Rechtsreferendar Yushi Lewis (Jeremy Mockridge) durch die neoklassizistischen Straßenzüge des Berliner Stadtkerns. Immer wieder poltert sein kleiner Rollkoffer gegen die Unebenheiten des restaurierten Kopfsteinpflasters. Aus dem Fenster der altehrwürdigen Musikhochschule blickt eine enervierte Cellistin auf den Störenfried herab, der, von ihrer anmutigen Erscheinung ergriffen, unbeholfen stehen bleibt. Das Fenster wird zugeschlagen.

In einer anderen, scheinbar weit zurückliegenden Zeit öffnet sich eine Tür zum Arbeitszimmer des preußischen Königs. Gemeinsam mit seinem Ministerpräsidenten Otto von Bismarck brütet Wilhelm I. über dem Wortlaut eines neuen Strafgesetzbuches. Vor allem beschäftigt die beiden agitierten Männer die Möglichkeit, den Straftatbestand des Hochverrats einzuführen. Damit ließe sich von nun an jede Form der militanten Renitenz gegen die Autorität verfolgen, insbesondere linke Kräfte, die sich womöglich noch mit den Kommunarden in Paris solidarisierten. Genau dies bringt den preußischen Deserteur und Komponisten Hans List (Sophie Rois) während des deutsch-französischen Krieges ins Fadenkreuz der kaiserlichen Verfolger.

Eine Studie von Gericht und Rechtsprechung

Die ersten Akkorde zum Auftakt von Max Linz’ dritter Diskurskomposition sind gesetzt. Nachdem der Filmemacher in „Ich will mich nicht künstlich aufregen“ die Medienkulturindustrie einer szenischen Dekonstruktion unterzogen hatte, folgte konsequenterweise die Ironisierung des Hochschulbetriebs in „Weitermachen Sanssouci“. Auch „L’état et moi“ studiert in essayistischer Weise eine gesellschaftliche Institution mitsamt ihrer Sprache und habituellen Formen: das Gericht und die deutsche Rechtsprechung. Damit hat sich Linz viel vorgenommen und bewegt sich das erste Mal außerhalb seines vertrauten Milieus. Für die Recherche besuchte der Filmemacher regelmäßig öffentliche Verhandlungen in ethnografischer Manier.

Doch ein dramaturgischer Zugang entstand für Linz erst über die Beschäftigung mit „Die Tage der Commune“, dem Bertholt-Brecht-Theaterstück zur Pariser Commune. Der zeitliche Zusammenfall des spontan gebildeten, revolutionären Stadtrats mit der Erlassung des deutschen Strafgesetzbuchs 1871 kontrastiert zwei politische Bewegungen, die sich als filmische Fliehkräfte gegeneinander ausspielen lassen. Anarchistischer Sozialismus trifft auf wilhelminische Autorität. Ein Konflikt, der als Stoff für eine Komödie geradezu prädestiniert ist.

Choreografien des Gerichts

„L’état et moi“ nähert sich den Institutionen der Rechtsprechung eher über Choreografien als durch Sprachanalysen. Die Theatralität des Gerichts erfordert eine Verkörperung von Autorität durch bestimmte Routinen. Als ungelenker Rechtsreferendar, der am laufenden Band stolpert oder Dinge umwirft, ist Yushi Lewis daher von Beginn an als Lehrling ausgewiesen. Ganz offensichtlich ist es noch ein weiter Weg zu einer überzeugenden juristischen Vorstellung, so wie sie seine Vorgesetzte, die Richterin Josephine Praetorius-Camusot (ebenfalls Sophie Rois) mühelos vorführt. Nur eine Frage der Einübung für ihren Eleven, so scheint es.

Doch dann tritt ein wirklich subversiver Körper auf die Bühne des Gerichts. Der als Wachsfigur im Berliner Stadtschloss aufbewahrte Leib des Komponisten (und Kommunisten) Hans List erwacht plötzlich. Vielleicht hat es etwas mit der kommenden Uraufführung seiner Oper zu tun, die Zeit seines kurzen Lebens unvollendet geblieben ist. Ganz ähnlich wie der sozialistische Traum. Es dauert nur fünf Minuten, bis der Wiedergänger durch eine Verkettung von Ungeschicken versehentlich die deutsche Fahne mit einem Zigarettenstummel in Brand gesteckt hat. „Hochverrat!“, dämmert es dem Berliner Polizeibeamten Detlev D. Detlevsen.

Wenig später landet der Zeitreisende im Gerichtssaal vor dem Tisch der frankophilen Richterin mit Opernabonnement. Hans List spricht nicht, er gestikuliert wie Buster Keaton und trägt dabei immer noch seinen Kommunardenfrack. Der Staatsanwalt Donnerstrunkhausen hat sich dem Eifer des Beamten Detlevsen angeschlossen und lässt nichts unversucht, um die rätselhafte und unberechenbare Person endlich hinter Gitter zu bringen. Doch da die Richterin und der Angeklagte sich sehr ähnlich sehen, was zunächst niemand zur Sprache bringt, zögert sich das Verfahren immer weiter hinaus. Hans List heuert als Komparse bei seinem eigenen Stück „Die Elenden“ an und vertreibt sich die Zeit mit Flüchtlingen und „Sans Papiers“ in einer Zeltunterkunft im Berliner Park. Der arme Referendar versucht glücklos das Herz der Cellistin zu erobern. Und schließlich entsteht eine Verwechslung zwischen Praetorius-Camusot und dem Komponisten, die einen Skandal in Gang setzt.

Die Körper im Zentrum

Anders als in den beiden Vorgängerfilmen arbeitet Linz in „L’état et moi“ nicht nur mit ironischer Distanz und Verfremdung, sondern setzt auf filmhistorisch etablierten Slapstick. Damit gerät die Choreografie der Körper auf mehreren Ebenen ins Zentrum der Inszenierung. Während die Kamera von Markus Koob eng gefasste, artifizielle Settings in den Blick nimmt, sprengen die linkischen Bewegungen des anarchischen Antihelden en passant den filmischen Raum wieder auf. Die autoritäre Strenge des wilhelminischen Rechts bricht sich am pastellfarbenen Diorama des modernen Gerichtssaals.

Dass auch die Schauspieler Bernhard Schütz und Hauke Heumann in einer preußischen Doppelrolle zu sehen sind, unterstreicht filmisch eine Kontinuität des deutschen Obrigkeitsstaats. Dessen Heimsuchung durch den revolutionären Geist ist jedoch nie weit, auch wenn an der Stelle des sozialistischen Palasts der Republik heute tatsächlich wieder das restaurative Berliner Stadtschloss steht.

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