Dear Memories - Eine Reise mit dem Magnum-Fotografen Thomas Hoepker

Dokumentarfilm | Deutschland/Schweiz 2021 | 102 Minuten

Regie: Nahuel Lopez

Als bei dem Fotografen Thomas Hoepker 2017 Alzheimer diagnostiziert wird, zieht er sich nicht zurück, sondern beschließt, so lange wie möglich weiterzuarbeiten. Zusammen mit seiner Frau Christine Kruchen reist er 2020 auf den Spuren einer früheren Reportage noch einmal quer durch die USA. Der Film dokumentiert diesen Trip und zeichnet dabei mit viel Sinn für Landschaften, Stimmungen und Farben ein beeindruckendes Bild des innerlich zerrissenen Landes. Es ist aber auch eine tief in Hoepkers Werk und Denken einführende Hommage und überdies ein feinfühliger, höchst intimer Bericht über ein Leben mit Alzheimer. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DEAR MEMORIES
Produktionsland
Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Granvista Media/Tellfilm GmbH
Regie
Nahuel Lopez
Buch
Nahuel Lopez
Kamera
Florian Mag
Musik
Marcel Vaid
Schnitt
Philipp Gromov
Länge
102 Minuten
Kinostart
30.06.2022
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Dokumentarisches Porträt
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
DCM (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt.)
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2022 reist der an Alzheimer erkrankte Fotograf Thomas Hoepker zusammen mit seinen Frau Christine Kruchen quer durch die USA, auf den Spuren einer früheren Reportage aus dem Jahr 1963.

Diskussion

Dieser Memory-Test sollte sie vorerst nicht weiter bekümmern, meint Christine Kruchen, als sie mit ihrem Mann, dem Fotografen Thomas Hoepker, von einer medizinischen Untersuchung nach Hause zurückfährt. Hoepker hatte sich zuvor einer Untersuchung gestellt und dabei nicht glänzend abgeschnitten. Im Auto gibt er den Clown und streckt seiner Krankheit im wahrsten Sinne des Wortes die Zunge raus.

Man kann sich einer Alzheimer-Erkrankung gegenüber, dem Vergessen und dem Nebel und Sturm im Kopf, so oder so verhalten. Der Fotograf Thomas Hoepker beschloss 2017, damit offen umzugehen, die Diagnose mit Humor zu ertragen und so lange wie möglich weiterzuarbeiten. Dass er diese Entscheidung gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Christine Kruchen traf, ist anzunehmen, denn ohne ihre Unterstützung, ihre Geduld und Fürsorge wäre ihm vieles nicht mehr möglich gewesen, was in dem Moment, als „Dear Memories“ entstand, noch möglich war.

Von New York nach San Francisco

Einer von Hoepkers großen Wünschen bestand darin, noch einmal quer durch die USA zu reisen. Von der Ostküste im weiten Bogen durchs Hinterland bis an die Westküste, von Southampton bei New York, wo er über 30 Jahre lang oft wohnte, bis nach San Francisco. Diese Route hat Hoepker schon einmal erkundet, im Jahr 1963 zusammen mit dem Journalisten Rolf Winter im Auftrag der in Hamburg erscheinenden Illustrierten „Kristall“. Es war eine seiner ersten großen Reportage-Reisen, bei der das US-Hinterland im Titel dann zum „Heartland“ wurde. Über 26.785 Kilometer, schrieb der damalige Chefredakteur Horst Mahnke im Editorial in der Ausgabe 8/1964, hätten Fotograf und Journalist im Auto zurückgelegt, wobei die beiden „abseits des Postkarten-Amerikas einige Wahrheiten“ entdeckt hätten, von denen es gut wäre, „wenn wir sie zu Kenntnis nehmen“.

Damit nahm Mahnke das vornweg, was Hoepkers fotografisches Schaffen auszeichnet: seine Neugierde und sein wacher Blick, der ihn Sujets entdecken ließ, die anderen entgingen. Dazu kommt ein tiefes humanistisches Verständnis seiner Arbeit, gepaart mit einem zurückgenommenen Auftreten, das Zugänge eröffnete, die anderen verwehrt blieben. Hoepker, der sich selbst nie als Künstler, sondern als „Image Maker“, als Bildermacher verstand, hat die sozialdokumentarische Fotografie der letzten 60 Jahre maßgebend mitgeprägt. Selbst wer seinen Namen nicht kennt, dürfte das ein oder andere seiner Bilder gesehen haben: die ikonischen Schwarz-weiß-Aufnahmen von Muhammad Ali, seine nicht nur in ihren Farbkompositionen sensationellen Reportagen aus Guatemala und China. Oder sein vielleicht bestes Bild, das am 11. September 2001 fünf junge Männer zeigt, die sich zur Lunchzeit angeregt unterhalten, während auf dem hinter ihnen gelegenen Manhattan schwarze Rauchwolken aufsteigen.

Unterwegssein und Fotografieren, sagt Kruchen, sei für Hoepker die beste Therapie. Und so beugt sich das Paar nach seiner Rückkehr vom Arzt zuhause über Bücher, Pläne und Straßenkarten. Obwohl sich die Corona-Pandemie bereits ankündigt, beschließen sie, dass es an der Zeit sei aufzubrechen. Man kann ja nicht wissen, wie sich Hoepkers Krankheit entwickelt.

Unterwegs mit einem Oldsmobile Cutlass

Von Anfang an mit dabei ist der deutsch-chilenische Filmemacher Nahuel Lopez; seine Aufnahmen von unterwegs bilden die Grundlage des Films. Kruchen sitzt am Steuer Man des Oldsmobile Cutlass, Hoepker daneben. Manchmal unterhalten sich die beiden, manchmal hören sie Radio; Hoepker döst öfters ein. Unterwegs werden Bekannte und Verwandte besucht, man sitzt zusammen, schaut Fotos an, erinnert sich. Dann geht es weiter. Halt wird an Orten gemacht, die von früher bekannt sind, neue werden erkundet. Kleine Ortschaften im Nirgendwo des Trump-Lands, eines der vielen Hollywoods, die es in den USA gibt, eine in der Landschaft fast schon verlorene Ortschaft, in der man von einem älteren Paar bei einer Plauderei am Gartenzaun Informationen über die Einwohner, ihre Frömmigkeit und den Konservatismus erhält. Freundlich und mitteilungsfreudig seien die Menschen hier in der Provinz, ganz anders als in New York, urteilen Kruchen und Hoepker bei der Weiterfahrt, auch wenn sie „Hinterwäldler“ bleiben, wie Hoepker kommentiert.

Manchmal muss Kruchen während einer Pause etwas erledigen. Dann zieht Hoepker mit der Kamera alleine los, begleitet von Lopez. Einmal begegnet er dabei einem jungen Vater mit seiner kleinen Tochter, wechselt mit dem Mann ein paar Worte und fotografiert schließlich, wie dieser vor einer Graffiti-Wand einen Handstand macht. Es ist eine der schönsten Aufnahmen, die während des Trips entstanden; aus der Vielzahl der Fotos wählen Hoepker nd Kruchen am Ende nur fünf oder sechs „brauchbare“ Bilder. Hoepker ist sein strengster Kritiker. Ein richtig gutes Bild, sagt er, gelinge manchmal nur einmal pro Jahr. Gleichwohl ziehe man als Fotograf jeden Tag aufs Neue los, weil einem vielleicht ja genau heute dieses eine Bild gelingen könnte.

As good as it gets

Lopez zeigt Hoepker und Kruchen in ihrem improvisierten Reisealltag. Er begleitet die beiden bei Verwandtenbesuchen, beobachtet sie während einer per Skype übertragenen Trauerzeremonie für einen kürzlich verstorbenen Bekannten, lauscht ihren Gesprächen. Das Gefilmte reichert er in der Montage mit den unterwegs von Hoepker geschossenen Fotos, aber auch mit früheren Bildern an. Ergänzt wird das durch Gespräch mit Hoepker, aber auch Ausschnitten aus früheren Interviews und im Off eingelesenen Passagen aus von Hoepker verfassten Essays.

Dass Hoepker, der von sich sagt, dass er Geschichte schon immer lieber mit Bildern statt in Worten erzählte, im Gespräch manchmal den Faden verliert oder einen Begriff nicht findet, fällt dabei kaum ins Gewicht. Und wenn er sich an einen Namen nicht erinnert und nicht mehr weiß, ob jemand ein guter Freund oder nur ein entfernter Bekannter war, hilft ihm seine Frau geduldig auf die Sprünge; selbst als Hoepker in Las Vegas die Kapelle nicht wiedererkennt, in der sie 18 Jahre zuvor geheiratet haben, steckt Kruchen das unaufgeregt weg.

Kruchens positives Denken, dieses pramatische „as good as it gets“, mit dem sie das Leben an der Seite von und in der Beziehung mit Hoepker meistert, lässt „Dear Memories“ groß werden. Nicht nur als äußerst sorgfältig sondierte Hommage an den Menschen und Fotografen Thomas Hoepker, sondern auch als feinfühliges, fas intimes Porträt zweier Menschen, die gemeinsam den Herausforderungen einer unheilbaren Krankheit die Stirn bieten und dabei immer wieder liebe- und humorvoll zusammenfinden.

Ein Film über das Leben mit Alzheimer

„Dear Memories“ ist einer der hoffnungsvollsten Filme über ein Leben mit Alzheimer. Und zugleich ein beeindruckendes Stimmungsbild der USA, die 2020 von den Turbulenzen der 59. Präsidentschaftswahl ebenso erschüttert werden wie durch das abrupte Aufflammen der Corona-Pandemie.

Die mehrteilige Reportage „Heartland“ aus dem Jahr 1964 ist als Buch bei Wanderer Books erschienen. Der Bildband „The Way it Was. Road Trips USA“ (Steidl 2022), bringt die Aufnahmen von damals und heute auf beiden Reisen zusammen.

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