Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 94 Minuten

Regie: Andrei Schwartz

Fünf Jahre lang begleitet der Dokumentarfilm eine Handvoll Roma, die zwischen ihrer rumänischen Heimat und Hamburg hin und her pendeln und ihren Lebensunterhalt durch Betteln verdienen. Geschlafen wird meist unter Brücken. Zwei von ihnen schaffen es, in Hamburg eine feste Bleibe zu finden. In ihrer Heimat nahe Bukarest herrscht bittere Armut, aber eine Enkelin lernt immerhin Lesen und Schreiben. Das einfühlsame Langzeitporträt erzählt vom Dasein unter widrigsten Bedingungen und gibt den marginalisierten Menschen ein Gesicht und eine Stimme. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Wüste Film
Regie
Andrei Schwartz
Buch
Andrei Schwartz
Kamera
Susanne Schüle
Schnitt
Rune Schweitzer
Länge
94 Minuten
Kinostart
15.09.2022
Fsk
ab 0
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Einfühlsamer Dokumentarfilm über eine Gruppe Roma, die regelmäßig zwischen der Hamburger Fußgängerzone und ihrer rumänischen Heimat pendeln.

Diskussion

„Hallo, bitte … Hallo, bitte …“. Maria kann sich selbst schon nicht mehr hören. Aber was soll sie machen? Mit ihrem Mann Tirloi, die beiden sind schon etwas älter, geht sie jeden Tag zur Arbeit. In Hamburg setzen sie sich vor Supermärkte, an U-Bahnhöfe, manchmal getrennt, manchmal zusammen. Nachts schlafen sie mit den anderen, die meisten Verwandte, unter einer Brücke. Die Menschen seien anständig zu ihnen, sagt Maria. Manche hätten sie sogar zum Essen eingeladen. Das größte Problem sind die hiesigen Bettler, mit denen sie um die besten Plätze kämpfen. „Fünfzig Meter Abstand!“, krakeelt einer über den Platz, das sei Gesetz. Ein anderer hat eine Deutschlandfahne an den Rollstuhl gesteckt; das ist fast lustig, aber natürlich gelten auch ganz unten Hierarchien.

Sichtbarkeit für bedrängte Minderheiten wird immer wieder gefordert, doch sie kann auch ein Fluch sein. Das Bild der Roma in Deutschland ist vom Betteln bestimmt. Schon glaubt man alles zu wissen: jämmerliche Figuren am Straßenrand, kriminelle Banden, Elend zum Wegschauen. Man kann aber auch hinter dieses Bild blicken, wie es Andrei Schwartz in dem Dokumentarfilm „Europa Passage“ tut. Und sich danach vielleicht ein bisschen für seine Vorurteile schämen.

Die Roma hoffen auf die Zukunft

Maria und Tirloi stammen aus einem kleinen Dorf in den Subkarpaten. Beim Pendeln zwischen Hamburg und ihrer rumänischen Heimat hat sie Schwartz fünf Jahre lang begleitet. Namaiesti, so heißt ihr Dorf, besteht aus ein paar Bretterverschlägen, Stromleitungen, Pferdefuhrwerken, einem Fluss. Traditionell wurden hier Holz und Reisig gesammelt und zu Besen verarbeitet. Doch die Regierung hat das Holzfällen verboten.

Mehrere Fabriken in der Gegend, die im Kommunismus noch genügend Arbeit boten, sind schon lange geschlossen oder bestehen auf gelernten Fachkräften. Die Roma, oft Analphabeten, hoffen auf die Zukunft und schicken ihre Kinder zur Schule. In Kenntnis dieser Zustände ist man etwas weniger irritiert, wenn Maria in einer trüben Winternacht auf die denkbar trostloseste Hamburger Verkehrskreuzung blickt und sagt: „Wie schön es hier ist!“

Mit Listen vom Jobcenter werden die Roma zu Betrieben geschickt, doch das bedeutet in aller Regel die Schlachtindustrie. Hier arbeitet keiner gerne, und wenn man sich an die Bilder der jüngsten Skandale erinnert, ahnt man auch, warum. Über die grundlegenderen Zusammenhänge einer Ökonomie, in der auch die überall diskriminierten Roma eine Rolle spielen, vermag ein dokumentarisches Format wie „Europa Passage“ nur wenig Aussagen zu machen.

Auch im waldreichen Rumänien sind illegale Waldrodungen ein Milliardengeschäft, an dem nicht jeder teilhaben darf. Erst recht nicht, seitdem EU-Gerichte auf Sanktionen drängen. Was man hingegen sieht, sind die fatalen Auswirkungen der restriktiven Hamburger Sozialpolitik, die den Roma seit einigen Jahren den Zugang zum Winternotprogramm verweigert. Durch die nächtliche Kälte seien sie alle krank, sagt Maria. Irgendwann verlieren sie sogar ihren Platz unter der Brücke.

Sehnsucht nach Normalität

Der nach einem Hamburger Einkaufszentrum benannte Film ertrinkt allerdings nicht in Elend. Eigentlich haben Maria, Tirloi und die anderen immer ein verschmitztes, wenn auch gequältes Lächeln im Gesicht. Die Situation ist schlimm genug. Das Paar bezieht eine kleine Wohnung, die im Lauf des Films immer hübscher wird. Tirloi nimmt eine Arbeit an, bei der man ihn aber nicht filmen darf. Es wird auch so genug sicht- und vor allem hörbar.

Die Sehnsucht nach Normalität spricht aus jedem Wort dieser hart geprüften Menschen, die dennoch gerne von ihrem Leben auf der Straße erzählen. Sie sind, in gebotener Umkehrung der Verhältnisse, auch die einzigen, die hier zu uns sprechen. Dabei könnte jeder etwas zu der rudimentären Infrastruktur beitragen, die sie auf den Beinen hält. So wie etwa die Kioskbesitzerin, die sich Videos aus ihrer rumänischen Heimat ansieht; eine alte Hamburger Dame, die auch an Roma vermietet. Man könnte auch einfach weiterlaufen. Doch das fällt schwerer, wenn man ihnen einmal zugehört hat.

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