Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | 110 Minuten

Regie: Martin Gressmann

Am Ende des Zweiten Weltkriegs löste die SS angesichts der heranrückenden Roten Armee Konzentrationslager auf und trieb die Häftlinge gewaltsam Richtung Westen. Über 70 Jahre später folgt ein Dokumentarfilm den Routen der sogenannten „Todesmärsche“ durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern und fängt ein, dass die früheren Orte des Grauens nicht mehr als solche erkennbar sind. Neben eine beeindruckende Bildmontage treten die eindrücklichen Berichte von Zeitzeugen als drastische Erzählungen von Gewalt, Ausbeutung und traumatisierender Erfahrungen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Martin Gressmann Filmprod.
Regie
Martin Gressmann
Buch
Martin Gressmann
Kamera
Volker Gläser · Martin Gressmann · Sabine Herpich
Musik
Brynmor Jones
Schnitt
Stefan Oliveira-Pita
Länge
110 Minuten
Kinostart
13.10.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Dokumentarfilm auf den Spuren der Todesmärsche, auf denen am Ende des Zweiten Weltkriegs Häftlinge aus Konzentrationslagern durch den Osten Deutschlands getrieben wurden.

Diskussion

Als zum Ende des Zweiten Weltkrieges die Rote Armee sich den Konzentrationslagern näherte, machte die SS mobil und begann mit der Auflösung der Konzentrationslager. Tausende Häftlinge – Männer wie Frauen – wurden ausgemergelt, schlecht ausgerüstet und ohne Verpflegung auf Todesmärsche mit teilweise mangelhafter Logistik Richtung Norden und Westen in Bewegung gesetzt. Wer den Strapazen der bis zu 250 Kilometer langen Märsche mit Tagesleistungen von bis zu 40 Kilometern nicht gewachsen war, wurde an Ort und Stelle erschossen. Anfangs existierte noch eine Nachhut, die die Leichen verscharrte. Später wurde das im allgemeinen Chaos unterlassen.

Denn nicht nur die KZ-Häftlinge bewegten sich zumeist auf Nebenwegen durch die Landschaften Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns, sondern sie kreuzten durchaus die Wege mit Geflüchteten aus den Ostgebieten, mit Teilen der zurückweichenden Wehrmacht und deren Ersatz durch Volkssturm und Hitlerjugend. Gleichzeitig verließen die Familien der NS-Elite Berlin, und Feldjäger waren auf der Suche nach Deserteuren. Und dann war da auch noch der Zug des Reichsführers-SS Heinrich Himmler, der kreuz und quer durch Nazi-Deutschland fuhr, weil er die mobilen KZ-Häftlinge als Faustpfand bei Verhandlungen mit den Alliierten begriff und sich dabei durchaus auf Menschenhandel einließ.

Nicht prominent in der kollektiven Erinnerungskultur

Als der Filmemacher Martin Gressmann („Das Gelände“) mit einigen Freunden um die Jahrtausendwende einen Bauernhof in der ländlichen Umgebung Berlins erwarb, stieß er immer wieder auf Gedenkschilder aus DDR-Zeiten, die an die Todesmärsche 1944/45 erinnerten, die es nicht prominent ins kollektive Gedächtnis und seine Erinnerungskultur geschafft haben, wenngleich sie als gut erforscht gelten. Als sich 2015 die Gelegenheit ergab, am Rande einer Gedenkveranstaltung von Überlebenden im Brandenburgischen hochbetagte Zeitzeugen zu befragen, nutzte er diese.

Gesprochen wird in „Nicht verRecken“ Polnisch, Ukrainisch, Deutsch und Französisch. Das seinerzeit dokumentierte Material montierte er mit geduldigen Landschaftserkundungen, die zum Teil Motive der Erzählungen der Zeitzeugen aufgreifen, teilweise aber einfach auch Wege – Feldwege, Waldlichtungen, stillgelegte Bahngleise, Landstraßen in weiten agrarisch geprägten Landschaften – nachzeichnen. Aus dem gewählten Kontrastverfahren ergibt sich eine überzeugende Montage aus drastischen Erzählungen von Gewalt und Ausbeutung – die Kriegswirtschaft unter der Ägide der SS spielt durchaus eine wesentliche Rolle bei den Erzählungen von Arbeitseinsätzen und Arbeitsbedingungen mit dem Ziel der Vernichtung – sowie einer Landschaft, die von dem, was sie „gesehen“ hat, bestenfalls sensiblen Detektoren Zeugnis ablegt.

Den Orten ist der Schrecken nicht anzusehen

Was gerade durch den Kontrast von Schrecken und Stille zu einer beklemmenden Fallhöhe führt, weil nach 70 Jahren den Orten der Schrecken nicht anzusehen ist. Mit dem Verzicht auf einen bloß illustrierenden Rückgriff auf historisches Material steht „Nicht verRecken“ deutlich in der Tradition von Claude Lanzmanns „Shoah“, aber auch in der von Thomas Heises „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ oder Ute Adamczewskis „Zustand und Gelände“.

Interessanter noch: „Nicht verRecken“ könnte einer der letzten Filme sein, bei dem diese Ästhetik noch greift. Einerseits ist da die deutlich autobiografisch geprägte Frage Gressmanns, ob einer der Todesmärsche wohl auch an seinem Bauernhof vorbeiführte, die auch Stimmen Raum gibt, die davon berichten, wie sie die Begegnung mit den KZ-Häftlingen erlebten. Da kommt ein weiteres Mal das Alter der Zeitzeugen ins Spiel, die zumeist aus den Jahrgängen 1924/25 stammen. Das heißt: sie waren zum Zeitpunkt der Todesmärsche noch sehr jung, haben Traumatisierendes erfahren, aber offenkundig keine Routinen im Rekapitulieren des Erlebten. So antwortet einer der Zeugen, befragt nach seinen Eindrücken bei der Beobachtung von Hinrichtungen, er sei damals „ja erst“ 14 Jahre alt gewesen.

Andererseits kursieren Erinnerungen daran, dass die KZ-Häftlinge am Dorfrand kampiert hatten, weil auf einer Wiese das Gras komplett gegessen worden sei. Aber auch, dass die Dorfvorsteher durchaus erleichtert waren, wenn der Todesmarsch weiterging. Zumal wenn sich die Truppen der Roten Armee oder der Alliierten näherten. Und bei der Gedenkveranstaltung im Belower Wald wird einmal gesagt, die „Helden“ seien damals die Eltern gewesen, die im Bewusstsein leben mussten, ihre Kinder nicht schützen zu können.

Erst Zeithistoriker vermitteln das ganze Bild

Nachdenklich machen auch die Episoden, die ein Franzose und ein Ukrainer über die Zeit nach der Befreiung erzählen: Nicht jeder Rückkehrer aus deutscher Haft wurde in der Heimat freundlich empfangen. Man kann also einerseits den Reichtum des Films feiern, anderseits die Lücken im Gewebe des Films durchaus in ihrer Offenheit anerkennen, aber es zeigt sich doch recht eindrücklich, dass das Bild eines Marschierplatzes mit unterschiedlichen Belägen (Gras, Steine, Asphalt) im KZ Sachsenhausen erst dann zu sprechen beginnt, wenn Zeithistoriker vermitteln, dass die SS hier die KZ-Häftlinge als Dienstleister der deutschen Schuhindustrie verdingte.

Wiederholt in diesem Film wird die Perspektive der Zeitzeugen durch den Einbezug von einem Off-Kommentar zu abstrakteren Zusammenhängen „erweitert“ – nicht zuletzt in der Seitenhandlung zum Agieren Heinrich Himmlers bei Kriegsende, vor dem die Zeitzeugen vermutlich nichts wussten. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass das klassisch gewordene Konzept des Dokumentierens dessen, was sich der Vorstellungskraft der Zuschauer entzieht, eine Grenze erkennt. Genau diese Einsicht zu vermitteln, ist nicht die geringste Leistung dieses beeindruckenden Films.

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